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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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er von der Wirklichkeit doch überwältigt.
    Hans Olofson und sein Vater spazieren im harten Gegenwind über eine Landzunge in der Nähe von Gävle. Um seinen Sohn von seinen qualvollen Grübeleien über Sture abzulenken, hat sich Erik Olofson eine Woche Urlaub genommen und zeigt ihm das Meer. Mitte Juni nehmen sie den Überlandbus, steigen in Ljusdal um und erreichen am späten Abend Gävle.
    Hans Olofson findet ein abgeschabtes Borkenboot, das jemand liegengelassen hat, und steckt es in die Jackentasche. Erik Olofson träumt von den Bananenfrachtern, auf denen er früher gefahren ist. Aus dem Holzfäller lugt das Gesicht des Seemanns hervor, und ihm wird wieder einmal klar, daß seine Welt die See ist.
    Das Meer verändert sich unentwegt, denkt Hans Olofson. Es ist nie möglich, die ganze Wasserfläche im Blick zu behalten. Immer kommt es an irgendeiner Stelle zu einer unerwarteten Bewegung. Das Wechselspiel aus Sonne und Wolken läßt das Meer glitzern und verwandelt es unaufhörlich, unermüdlich. Er kann sich nicht satt sehen am Meer, das rollt und donnert, Wellenkämme hin und her wirft und sich beruhigt, um dann wieder hochzuspritzen, zu singen und zu stöhnen.
    Sture ist zwar nicht aus seinen Gedanken verschwunden, aber es ist, als würde das Meer den schlimmsten Schmerz und die nagendste Trauer verschlucken und langsam unter sich begraben. Seine vagen Schuldgefühle und der Gedanke, daß es seine unsichtbaren Hände waren, die Sture vom Brückenbogen in die Tiefe gestoßen haben, versinken, und zurück bleibt nur eine mahlende Unruhe, die einem Schmerz ähnelt, der sich nicht recht entscheiden kann, ob er zuschlagen soll oder nicht.
    Sture verwandelt sich mehr und mehr von einem lebendigen Menschen in eine Erinnerung. Mit jedem neuen Tag verschwimmen seine Gesichtszüge mehr, und ohne es in Worte fassen zu können, begreift Hans Olofson, daß das Leben, das weitergeht, wichtiger ist als die Vergangenheit. Er spürt, daß er zu etwas Unbekanntem unterwegs ist, daß neue und beunruhigende Kräfte freigesetzt werden.
    Ich warte auf etwas, denkt er. Und während er wartet, sucht er am Ufer beharrlich nach Strandgut.
    Erik Olofson geht ein wenig beiseite, so als wollte er nicht stören. Es quält ihn, daß sein eigenes Warten kein Ende zu nehmen scheint. Das Meer erinnert ihn an seinen eigenen Untergang.
    Sie wohnen in einem einfachen Hotel in Bahnhofsnähe. Als sein Vater eingeschlafen ist, gleitet Hans Olofson vorsichtig aus dem Bett und setzt sich in die breite Fensternische. Von hier aus kann er den kleinen Platz vor dem Bahnhofsgebäude überblicken.
    Er malt sich das Zimmer in dem fernen Krankenhaus aus, in dem Sture nun liegt. Eine Lungenmaschine, hat er gehört. Ein dicker schwarzer Schlauch, der im Hals verschwindet, eine künstliche Kehle, die für Sture atmet. Das Rückgrat ist gebrochen, geknackt wie bei einem Barsch.
    Er versucht sich vorzustellen, was es heißt, sich nicht bewegen zu können, was ihm natürlich nicht gelingt, und plötzlich hat er genug von den düsteren Gedanken und wischt sie beiseite.
    Es ist mir egal, denkt er. Ich bin über den Brückenbogen geklettert, ich bin nicht heruntergefallen. Verdammt, was hatte er da auch allein zu suchen, am Morgen, im Nebel? Er hätte auf mich warten sollen.
    Die Tage am Meer gehen schnell vorüber. Nach einer Woche müssen sie heimkehren.
    In dem schaukelnden Bus schreit er unvermittelt seinen Vater an: »Mama. Warum weißt du nicht, wo sie ist?«
    »Es gibt vieles, was man nicht wissen kann«, wehrt sich Erik Olofson, überrumpelt von der unerwarteten Frage.
    »Väter verschwinden«, ruft Hans Olofson. »Mütter nicht.«
    »Jetzt hast du das Meer gesehen«, erwidert Erik Olofson. »Und hier kann man nicht reden. Der Bus ist so verdammt laut.«
    Am nächsten Tag widmet sich Erik Olofson wieder der Aufgabe, den Horizont freizulegen. Ungeduldig schlägt er mit der Axt nach einem widerspenstigen Ast, der sich nicht vom Stamm lösen will. Er legt sein ganzes Körpergewicht in den Hieb, schlägt wütend auf den Ast ein.
    Ich schlage mich selbst, denkt er. Schlage die verdammten Wurzeln ab, die mich hier festhalten. Der Junge ist jetzt fast vierzehn. In ein paar Jahren kommt er allein zurecht. Dann kann ich ans Meer zurückkehren, zu den Schiffen, zu den Ladungen.
    Er schlägt mit der Axt, und bei jedem Hieb hat er das Gefühl, sich mit der Faust gegen die Stirn zu schlagen und sich zu sagen: Ich muß …
    Hans Olofson läuft durch den hellen

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