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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Olofson seine flackernden Augen sieht, fängt er an ihn zu hassen. Er jagt den schlaftrunkenen Säufer in die Küche hinaus und schlägt seinem Vater die Tür vor der Nase zu. Dann reißt er den Bettüberzug herunter, setzt sich und lauscht seinem pochenden Herzen.
    Mutshatsha, denkt er.
    In der Küche wird mit den Stühlen gescharrt, die Wohnungstür öffnet sich, Stimmen murmeln, und dann ist alles still.
    Erst glaubt er, sein Vater wäre mit den Saufkumpanen in die Stadt gezogen, aber dann hört er ein Schlurfen und ein Plumpsen aus der Küche. Als er die Tür öffnet, sieht er seinen Vater mit einem Putzlappen in der Hand herumkriechen, um den Dreck vom Fußboden aufzuwischen.
    In diesem Moment erinnert ihn sein Vater an ein Tier. Seine Hose ist heruntergerutscht, so daß sein Hinterteil entblößt ist. Er ist ein blindes Tier, das immer im Kreis kriecht.
    »Zieh deine Hose hoch«, sagt Hans Olofson. »Und kriech nicht so auf der Erde herum. Ich werde den verdammten Fußboden putzen.«
    Er hilft seinem Vater hoch, und als Erik Olofson das Gleichgewicht verliert, landen sie in einer unfreiwilligen Umarmung auf der Küchenbank. Als er sich losmachen will, hält sein Vater ihn fest.
    Für einen Moment glaubt er, sein Vater wolle ihn schlagen, aber dann hört er ihn in einem heftigen Weinkrampf schluchzen und jammern. Das hat er noch nie erlebt.
    Wehmut und glasige Augen, eine zittrige, belegte Stimme, das alles kennt er, aber nicht diese unverhohlenen Tränen.
    Was soll ich nur tun, denkt er, des Vaters verschwitztes und unrasiertes Gesicht an seinem Hals.
    Die Elchhunde unter dem Küchentisch lassen besorgt die Ohren hängen. Sie sind getreten worden und haben den ganzen Tag noch kein Futter bekommen. In der Küche stinkt es nach ranzigem Fett, qualmenden Pfeifen und verschüttetem Bier.
    »Wir müssen hier aufräumen«, sagt Hans Olofson und macht sich frei. »Leg dich hin, ich werde den Mist wegwischen.«
    Erik Olofson sackt auf der Küchenbank in sich zusammen, und sein Sohn putzt den Küchenfußboden.
    »Schaff die Hunde raus«, murmelt sein Vater.
    »Schaff sie doch selber raus«, erwidert Hans Olofson.
    Es paßt ihm nicht, daß die verachteten und berüchtigten Säufer der Stadt sich in ihrer Küche ausbreiten durften. Die sollen gefälligst in ihren Bruchbuden bleiben, denkt er, bei ihren Weibern, Blagen und Bierflaschen …
    Sein Vater schläft auf der Bank ein. Hans Olofson deckt ihn zu, bringt die Hunde hinaus und kettet sie am Holzschuppen an. Dann geht er zu dem Altar im Wald.
    Inzwischen ist es Nacht geworden, eine helle nordschwedische Sommernacht. Vor dem Gewerkschaftshaus grölen ein paar Jugendliche, die einen glänzenden Chevrolet umringen. Hans Olofson kehrt zu seiner Karawane zurück, zählt seine Träger und gibt den Befehl zum Aufbruch.
    Missionar oder nicht, ein gewisses autoritäres Auftreten muß sein, damit die Träger nicht faul werden oder vielleicht sogar von den Vorräten stehlen. Man muß sie regelmäßig mit Glasperlen und ähnlichem Krimskrams aufmuntern, sie aber auch gegebenenfalls zwingen, bei Versäumnissen Zeuge von Bestrafungen zu werden. Er weiß, daß er in den vielen Monaten, vielleicht Jahren, die seine Karawane unterwegs sein wird, selbst im Schlaf immer ein Auge offenhalten muß.
    Hinter dem Krankenhaus hört er die ersten Zurufe der Träger, sie bitten um eine Pause, doch er treibt sie weiter an. Erst als sie den Altar im Wald erreicht haben, erlaubt er ihnen, die schweren Lasten abzusetzen.
    »Mutshatsha«, sagt er, dem Altar zugewandt. »Gemeinsam werden wir eines Tages nach Mutshatsha reisen, wenn dein Rücken verheilt ist und du wieder aufgestanden bist …«
    Er schickt die Träger voraus, um in Ruhe nachdenken zu können.
    Reisen heißt vielleicht etwas besiegen wollen, denkt er vage. Die Spötter zu besiegen, die niemals geglaubt hätten, daß man sich wirklich auf den Weg macht, und wenn man auch nur bis in die Wälder von Orsa kommt. Oder all jene zu besiegen, die vor einem aufgebrochen sind, indem man noch weiter reist und tiefer in die Wildnis vordringt. Die eigene Trägheit, Feigheit, Angst besiegen.
    Ich habe die Brücke über den Fluß besiegt, denkt er. Ich war stärker als meine Angst.
    Er schlendert durch die Sommernacht nach Hause.
    Es gibt viel mehr Fragen als Antworten. Da ist zum Beispiel Erik Olofson, sein rätselhafter Vater. Warum fängt er ausgerechnet jetzt wieder an zu trinken? Nachdem sie gemeinsam am Meer waren und gesehen haben, daß es

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