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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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aus dem Kopf. Die Tür hat sich geöffnet, Janine ist in das Zimmer gekommen, hat nackt vor ihm gestanden und ihn angesehen. Wie ein geschliffenes Prisma ist der Traum, scharf wie ein Bild aus der Realität schiebt er sich durch die Schleier der Reue … Das muß tatsächlich geschehen sein, denkt er. Sie muß diese Nacht zu mir gekommen sein, nackt …
    Er steht von der Couch auf, schleicht in die Küche hinaus und trinkt Wasser. Die Tür zu ihrem Zimmer ist verschlossen, und als er lauscht, hört er ihr leises Schnorkeln. Auf der Wanduhr ist es Viertel vor fünf, und er legt sich wieder auf die Couch, um zu schlafen und zu träumen oder alles zu vergessen …
    Als er Stunden später wieder wach wird, dämmert es bereits, und Janine sitzt in ihrem Morgenrock am Küchentisch und strickt. Als er sie so sieht, möchte er ihr das Strickzeug aus der Hand nehmen, ihren Morgenrock öffnen und sich in ihrem Körper begraben. Die Tür zu ihrem Haus am Südufer des Flusses soll sich für immer schließen, nie wieder wird er dieses Haus verlassen.
    »Woran denkst du?« fragt sie.
    Sie weiß es, fährt es ihm durch den Kopf. Es hat keinen Sinn zu lügen. Nichts hat einen Sinn, die Mühen des Lebens türmen sich wie gewaltige Eisberge vor ihm auf. Wie kann er sich nur einbilden, ein Losungswort zu finden, das es ihm ermöglicht, dieses verdammte Leben zu bewältigen?
    »Du denkst doch an etwas«, beharrt sie. »Ich sehe es dir an. Deine Lippen bewegen sich, als würdest du mit jemandem sprechen. Aber ich kann nicht hören, was du sagst.«
    »Ich denke an nichts«, antwortet er. »Woran soll ich schon denken? Vielleicht kann ich gar nicht denken!«
    »Wenn du nicht willst, brauchst du nicht zu reden«, sagt sie.
    Noch einmal überlegt er, zu ihr zu gehen und den Gürtel ihres Morgenrocks zu lösen. Aber er leiht sich einen Pullover und verschwindet in der frostigen Herbstlandschaft.
    Vorsteher Gullbergs Frau putzt gerade das Gewerkschaftshaus. Mürrisch öffnet sie ihm die Hintertür, als er anklopft. Sein Mantel hängt noch wie eine abgelegte Haut an einem Kleiderhaken. Er gibt ihr seine Garderobenmarke.
    »Wie kann man nur seinen Mantel vergessen«, sagt sie.
    »Das kann man«, erwidert Hans Olofson und geht.
    Mit der Zeit lernt er, daß es ein Vergessen von unermeßlichen Ausmaßen gibt.
    Die Jahreszeiten lösen einander ab, und der Fluß friert zu, um eines Tages wieder über die Ufer zu treten. Egal, wie viele Bäume sein Vater auch fällt, der Nadelwald steht unerschütterlich am Horizont. Der Schienenbus rattert über die Brücke, und zu allen Jahreszeiten trottet Hans Olofson zu Janines Haus. Die Wissensflut, in der er langsam, Jahr für Jahr treibt, enthüllt ihm keinen Sinn. Dennoch bleibt er auf der Schule und wartet.
    Er steht vor Janines Haus. Die Töne ihrer Posaune sickern durch das halboffene Fenster. Jeden Tag steht er dort, und jeden Tag nimmt er sich vor, den Gürtel ihres Morgenrocks zu lösen. Immer öfter besucht er sie zu Zeiten, an denen er davon ausgehen kann, daß sie nicht angezogen ist. Am frühen Sonntagmorgen klopft er an ihre Tür, dann wieder steht er weit nach Mitternacht auf ihrer Treppe. Der Gürtel, der ihren Morgenrock zusammenhält, leuchtet wie Feuer.
    Aber als er schließlich wirklich mit fahrigen Händen nach ihrem Gürtel greift, ist nichts, wie er es sich vorgestellt hat.
    Es geschieht an einem Sonntagmorgen im Mai, zwei Jahre nach seiner Kündigung beim Pferdehändler. Am Abend zuvor hat er sich über die Tanzfläche geschoben, ist jedoch schon früh gegangen, lange bevor Vorsteher Gullberg wütend die Lampen ein und ausgeschaltet und Kringströms Orchester die Instrumente weggepackt hat. Plötzlich hat er genug und geht. Lange läuft er durch die helle Frühlingsnacht, ehe er an Eier-Karlssons Tür vorbeischleicht und ins Bett geht.
    Er wacht früh auf und trinkt mit seinem Vater in der Küche Kaffee. Dann geht er zu Janine. Sie läßt ihn ins Haus, und er folgt ihr in die Küche und löst ihren Gürtel. Langsam sinken sie zu Boden wie zwei Körper, die im Meer auf einen tiefen Grund sinken. Fest umklammern sie das Verlangen des anderen.
    Ihr Verlangen ist auf Hurra-Pelles Büßerbank niemals ganz erloschen. Lange hat sie befürchtet, es könne eines Tages vertrocknen, aber sie hat die Hoffnung nie ganz aufgegeben.
    Hans Olofson tritt endlich aus sich und seiner geballten Ohnmacht heraus. Zum erstenmal hat er das Gefühl, sein Leben in der Hand zu haben, und hinter seiner Stirn liegt

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