Das Auge des Leoparden
von einem fernen Meer zurückläßt.
Das letzte Jahr in Janines Leben …
An einem frühen Samstagmorgen im März 1962 stellt sie sich an die Straßenecke zwischen Eisenwarengeschäft und Gewerkschaftshaus. Es ist der Ortsmittelpunkt, eine Straßenecke, an der alle vorbeimüssen. An diesem frühen Morgen hebt sie ein Schild hoch, auf dem in schwarzen Buchstaben ein Text steht, den sie am Abend zuvor geschrieben hat.
Etwas Unerhörtes ist im Gange. Ein Gerücht zieht immer weitere Kreise. Einzelne Stimmen wagen anzudeuten, daß Janine und ihr einsames Transparent einer Erkenntnis Ausdruck verleihen, an der es schon viel zu lange fehlt. Aber diese Stimmen werden im eisigen Märzwind verweht.
Die Rechtschaffenen machen mobil … Ein Mensch, der nicht einmal mehr seine Nase hat? Haben wir nicht gedacht, sie würde sicher in Hurra-Pelles Schoß ruhen? Und jetzt steht diese Frau einfach da, die lieber unauffällig leben und ihr häßliches Gesicht verstecken sollte! Janine weiß, welche Gedanken sich nun wie ein Lauffeuer verbreiten.
Doch aus Hurra-Pelles einsilbigen Ermahnungen hat sie zumindest eins gelernt. Sie versteht es, Widerstand zu leisten, wenn der Wind sich dreht und der Glaube nach Halt sucht … An diesem frühen Morgen treibt sie einen Pfahl in den verschlafenen Ameisenhaufen. Menschen eilen die Straßen hinab, Mäntel flattern, und die Leute lesen, was sie geschrieben hat. Dann eilen sie weiter, um den nächstbesten Mitbürger am Kragen zu packen und unverzüglich eine Antwort auf die Frage zu verlangen, was diese Verrückte meinen könnte. Sollen wir uns etwa von so einer nasenlosen Alten vorschreiben lassen, was wir zu denken haben? Hat sie vielleicht jemand darum gebeten, diese ungebührliche Barrikade zu errichten?
Aus der Kneipe kommen schwankend die alten Säufer, um die Herrlichkeit mit eigenen Augen zu sehen. Das Schicksal der Welt ist ihnen zwar reichlich egal, aber dennoch werden sie Janines stumme Knappen, denn ihr Durst nach Rache ist grenzenlos. Wer einen Pfahl in das Herz des Ameisenhaufens treibt, hat jede nur erdenkliche Hilfe verdient … Im hellen Licht zwinkernd, stolpern sie aus den dunklen Bierstuben und stellen zufrieden fest, daß an diesem Morgen nichts mehr ist, wie es einmal war. Sofort ist ihnen klar, daß Janine jede Art von Unterstützung braucht, und ein ganz Mutiger unter ihnen taumelt über die Straße und bietet ihr ein Bier an, das sie jedoch freundlich dankend ablehnt.
Gleichzeitig schlingert Hurra-Pelle in seinem neuen Auto herbei, benachrichtigt von einem empörten Gemeindemitglied, das ihn mit dem Schrillen des Telefons geweckt hat. Er tut alles, was in seiner Macht steht, um sie zu stoppen. Eindringlich fleht er sie an. Doch sie schüttelt nur den Kopf. Sie wird stehenbleiben. Als er erkennt, daß ihr Entschluß unwiderruflich feststeht, geht er in seine Kirche, um sich in dieser bedauerlichen Angelegenheit mit seinem Gott zu beraten.
Im Polizeipräsidium sucht man inzwischen nach passenden Stichworten in den Gesetzen. Irgendwo muß es doch einen Paragraphen geben, der ein Einschreiten ermöglicht. Aber die Sache läßt sich kaum als »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« bezeichnen, auch nicht als »Krawall« oder als das »Heben einer lebensbedrohlichen Waffe«. Die Polizisten stöhnen über die lückenhaften Gesetzestexte und blättern fieberhaft in ihrem dicken Buch, während Janine an ihrer Straßenecke weiterhin Wache hält …
Schließlich erinnert sich jemand an Rudin, der sich vor Jahren selbst in Brand gesteckt hatte. Das könnte die Lösung sein! Eine Person, die nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, wird in Polizeigewahrsam genommen. Schwitzige Finger blättern weiter, und am Ende ist man zum Einschreiten bereit. Aber als die Polizisten aufmarschieren und die Menschenmenge lüstern abwartet, was nun geschehen mag, nimmt Janine seelenruhig ihr Schild herunter und geht davon. Den Polizisten bleibt enttäuscht der Mund offenstehen, die Menschenmenge murrt, und die Alten aus der Kneipe applaudieren vergnügt.
Nachdem endlich wieder Ruhe eingekehrt ist, läßt sich auch darüber diskutieren, was sie auf ihr unverschämtes Schild geschrieben hat: »Atombombe, nein danke. Eine Welt.« Aber wer will schon, daß ihm eine Bombe auf den Kopf fällt? Und was meint sie überhaupt mit »eine Welt«? Gibt es denn mehrere? Wenn die Wahrheit schon verkündet werden soll, dann doch bitte nicht von jemand, der sich zufällig dazu berufen fühlt,
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