Das Auge des Leoparden
Orchester den Abend mit »Twilight Time« beschließt, glaubt er, ausreichend Abbitte geleistet zu haben. Nun wird niemand mehr auf den Gedanken verfallen können, daß ihn mit der plakattragenden Verrückten insgeheim etwas verbindet. Er tritt auf die Straße hinaus, wischt sich den Schweiß von der Stirn, bleibt im Schatten stehen und sieht die Paare verschwinden. Die Nacht füllt sich mit Gejohle und Gekicher. Er wippt auf den Fußballen vor und zurück, und ihm ist schwindlig vom lauwarmen Schnaps.
Diese verdammte alte Kuh, denkt er. Womöglich hätte sie mich noch um Hilfe gebeten, wenn ich zufällig vorbeigekommen wäre …
Er beschließt, sie ein letztes Mal zu besuchen, um ihr die Meinung zu sagen. Um ja nicht gesehen zu werden, schleicht er sich wie ein Dieb über die Brücke und wartet lange vor ihrer Gartenpforte, ehe er in den Schatten des Hauses schlüpft.
Sie empfängt ihn, ohne ihm Vorwürfe zu machen. Er hätte kommen sollen, ist aber nicht gekommen. Das ist alles.
»Hast du gewartet?« fragt er.
»Ich bin es gewohnt zu warten«, antwortet sie. »Das macht nichts.«
Er haßt sie und er begehrt sie. Aber er hat auch das Gefühl, sich an diesem Abend zum Sprachrohr der ganzen Stadt zu machen, und gibt ihr zu verstehen, daß er sie nie mehr besuchen wird, wenn sie sich noch einmal an die Straßenecke stellt.
Ein kalter Luftstoß fährt durch ihr Herz.
Die ganze Zeit hat sie geglaubt, er würde sie ermutigen und ihr Handeln billigen. So hat sie jedenfalls ihre Gespräche über eine Welt, die ein frischer Wind in ihren Grundfesten erschüttert hat, aufgefaßt. Trauer legt sich bleiern auf ihr Haupt. Nun weiß sie, daß sie wieder allein ist … Jetzt allerdings noch nicht, denn sein Verlangen nach ihr überwiegt, und sie liegen sich wieder in den Armen.
Ihre letzte gemeinsame Zeit entwickelt sich zu einer Qual, die kein Ende nehmen will. Hans Olofson kehrt zu den Anfängen zurück, zu der Krähe mit dem abgehackten Kopf, die er und Sture in ihren Briefkasten legten. Nun hackt er nach ihrem Kopf. Er spuckt und flucht ihr hinterher, hält sich an keine Abmachung und macht sie bei jedem schlecht, der es hören will.
Mitten in diesem Chaos macht er seinen Realschulabschluß. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelingt es ihm, überraschend gute Abschlußnoten zu erzielen. Rektor Bohlin hat dafür gesorgt, daß ein Aufnahmeantrag an das Gymnasium in der Provinzhauptstadt gestellt wurde. Als Hans Olofson die graue Examensmütze aufsetzt, beschließt er, jetzt auch noch das Abitur zu machen. Nun braucht er nicht mehr zu warten, bis sein wankelmütiger Vater endlich die Axt fortwirft, jetzt nimmt er seinen Aufbruch selber in die Hand. Mit einem einzigen Ruck kann er sich befreien.
In der Nacht nach dem Examen steht er vor Janines Tür. Sie erwartet ihn mit einem Blumenstrauß, aber er will ihre dämlichen Blumen nicht haben. Er wird fortgehen und schaut noch einmal vorbei. Die graue Mütze hängt er über das Marienbild, das in ihrem Fenster steht … Aber bis zuletzt, den ganzen Sommer über, besucht er sie immer wieder. Ihr letztes Geheimnis wird er dennoch nie erfahren.
Das Ende ist verzagt und trostlos. An einem Abend Mitte August besucht er sie zum letztenmal. In ihrer Küche kommt es zu einer kurzen einsilbigen Begegnung, die ähnlich wie damals verläuft, als er mit der Heckenschere in der Hand vor ihr stand. Er sagt, daß er ihr schreiben werde, aber sie erwidert, das solle er lieber sein lassen. Es sei das Beste, wenn sich alles auflöse, vom Winde verweht werde.
Ein letztes Mal verläßt er ihr Haus. Hinter ihm erklingen die Töne von »Some of these days«.
Am nächsten Tag begleitet sein Vater ihn zum Bahnhof. Hans Olofson betrachtet ihn. Das Graue, Unentschlossene …
»Ich schaue ab und zu vorbei«, sagt er. »Du kannst mich ja auch einmal besuchen.«
Erik Olofson nickt. Sicher, natürlich werde er ihn besuchen.
»Das Meer …«, setzt Erik Olofson an und verstummt.
Aber Hans Olofson hört ihn schon nicht mehr. Er kann es kaum erwarten, daß der Schienenbus endlich abfährt.
Noch lange bleibt Erik Olofson auf dem Bahnhof stehen und denkt, daß es trotz allem immer noch das Meer gibt. Wenn er nur … Immer dieses »nur«. Dann geht er zu dem Haus am Fluß und läßt das Meer aus seinem Radio rauschen.
Die Zeit der Vogelbeeren kommt. An einem Sonntagmorgen im September hängt Nebel über der Stadt, die langsam zum Leben erwacht. Die Luft ist kühl, und der Schotter knirscht, als
Weitere Kostenlose Bücher