Das Auge des Leoparden
und erst recht nicht von so einer alten Kuh, die keine Nase mehr hat.
Janine geht mit erhobenem Kopf davon, auch wenn sie wie üblich zu Boden schaut. Am nächsten Samstag will sie sich wieder an die Straßenecke stellen, und niemand wird sie daran hindern können. Von den meisten unbemerkt, abseits der Bühnen, auf denen das Weltgeschehen sich abspielt, wird sie ihren bescheidenen Beitrag leisten. Sie überquert den Fluß, wirft die Haare in den Nacken und summt »A Night in Tunisia«. Unter ihren Füßen tanzen die ersten Eisschollen des Frühlings. Sie hat sich dem eigenen Blick gestellt, und sie hat sich getraut. Sie hat einen Menschen, der sie begehrt. Wenn alles schon vergänglich sein muß, so kennt sie doch wenigstens den Augenblick überschäumenden Lebens, in dem jeglicher Schmerz überwunden ist.
In diesem letzten Jahr, das Hans Olofson in dem Haus am Fluß lebt, kommt Bewegung in den Lebenslauf der beiden wie bei einer langsamen Verschiebung der Erdachse, eine Bewegung, die so minimal ist, daß sie anfangs gar nicht auffällt. Aber selbst ihre gottverlassene Gegend wird von der Dünung erreicht, die von einer Welt erzählt, die sich nicht länger damit abfindet, in ewige Dunkelheit verbannt zu werden. Die Perspektiven verschieben sich allmählich, das Beben weit entfernter Befreiungskriege und Aufstände dringt durch die Wälle der bewaldeten Hügel.
Gemeinsam sitzen sie in Janines Küche, lernen die Namen der neuen Nationen und spüren die Bewegung, die Vibration entlegener Kontinente, in denen die Menschen aufbegehren. Verblüfft und nicht ohne Furcht sehen sie, daß die Welt sich verändert, die alte Welt, in der morsche Zwischendecken einstürzen und unsägliches Elend, Ungerechtigkeit und Grausamkeit sichtbar werden. Hans Olofson beginnt zu verstehen, daß die Welt, in die er sich bald hinauswagen möchte, eine andere sein wird als die seines Vaters. Und er denkt, daß alles neu entdeckt werden muß, die Seekarten müssen überarbeitet werden, die alten Namen sind durch neue zu ersetzen.
Er versucht mit seinem Vater über das zu sprechen, was er erlebt, und drängt ihn, die Axt in einen Baumstumpf zu treiben und zur See zurückzukehren. Meistens enden ihre Gespräche jedoch, noch ehe sie richtig begonnen haben. Erik Olofson sträubt sich, will nicht erinnert werden.
Aber eines Tages geschieht etwas Unerwartetes.
»Ich werde nach Stockholm fahren«, sagt Erik Olofson beim Abendessen.
»Warum?« fragt sein Sohn.
»Ich habe in der Hauptstadt etwas zu erledigen.«
»Kennst du denn jemand in Stockholm?«
»Ich habe eine Antwort auf meinen Brief bekommen.«
»Auf welchen Brief?«
»Auf den Brief, den ich geschrieben habe.«
»Du schreibst doch keine Briefe.«
»Wenn du mir nicht glaubst, brauchen wir nicht weiter darüber zu reden.«
»Welcher Brief?«
»Von der Vaxholmsgesellschaft.«
»Der Vaxholmsgesellschaft?«
»Ja, der Vaxholmsgesellschaft.«
»Und was ist das?«
»Eine Reederei. Ihre Schiffe befahren die Gewässer der Stockholmer Schären.«
»Was wollen die von dir?«
»Ich habe irgendwo eine Stellenanzeige gesehen. Sie suchen Matrosen. Ich dachte, es könnte etwas für mich sein. Heimathäfen und Küstenverkehr in den inneren Schären.«
»Hast du dich um eine Stelle beworben?«
»Du hörst doch, was ich sage, oder nicht?«
»Und was schreiben sie?«
»Sie wollen, daß ich nach Stockholm komme und mich vorstelle.«
»Woran können sie sehen, daß du ein guter Matrose bist?«
»Sehen können sie das nicht, aber sie können mir Fragen stellen.«
»Was für Fragen?«
»Zum Beispiel, warum ich so viele Jahre nicht mehr zur See gefahren bin.«
»Und was antwortest du dann?«
»Daß die Kinder jetzt groß genug sind, um allein für sich zu sorgen.«
»Die Kinder?«
»Ich dachte, es macht einen besseren Eindruck, wenn ich sage, daß ich mehrere habe. Seeleute sollen möglichst viele Kinder haben, das war schon immer so.«
»Und wie heißen die Kinder?«
»Das muß ich mir noch überlegen. Man braucht doch nur ein paar Namen in die Runde zu werfen. Vielleicht kann ich mir auch von jemand ein Foto leihen.«
»Du willst dir ein Foto von den Kindern anderer Leute leihen?«
»Was macht das schon für einen Unterschied?«
»Das macht einen verdammt großen Unterschied!«
»Ich werde ja wohl kaum schwören müssen, daß es meine sind. Es gab einmal einen Reeder in Göteborg, der verlangte, daß alle, die auf seinen Schiffen anheuern wollten, auf Händen laufen konnten.
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