Das Auge des Leoparden
ein Mann von der Hauptstraße abbiegt und auf dem Weg zum Fluß die Abkürzung über die große Wiese nimmt. Der Volkspark auf der Landzunge leuchtet im grauen Morgenlicht wie eine verfallene Ruine. Auf den Weiden des Pferdehändlers grasen Pferde im Nebel. Lautlos bewegen sie sich wie Schiffe, die auf Wind warten.
Der Mann bindet am Flußufer ein Boot los, setzt sich an die Ruder und steuert das Ruderboot in den Sund zwischen der Landzunge des Parks und dem südlichen Flußufer hinaus. Dort wirft er einen Anker aus, der sich in den Steinen am Grund des Flusses verhakt, wirft eine Reuse ins Wasser und wartet.
Eine Stunde später beschließt er, sein Glück weiter flußabwärts an der Landzunge zu versuchen. Während er dorthin rudert, läßt er den Anker unter dem Kiel des Boots treiben, doch der Anker verhakt sich plötzlich, und als er ihn endlich wieder freibekommt, sieht er, daß ein fast verrotteter Fetzen Stoff vom Draggen aufgespießt worden ist. Er sieht, daß es ein Stück von einer Bluse ist. Nachdenklich rudert er ans Ufer zurück.
Der Stoffetzen liegt auf einem Tisch im Polizeipräsidium, wo Hurra-Pelle ihn in Augenschein nimmt und dann nickt.
Der Suchtrupp, der in aller Eile zusammengetrommelt wird, braucht nicht lange zu suchen. Als die beiden Ruderboote zum zweitenmal durch den Sund gleiten, bleibt einer der Haken, die über den Grund schleifen, hängen. Vom Ufer aus beobachtet Hurra-Pelle, wie Janine zurückkehrt.
Der Arzt betrachtet ein letztes Mal ihren Körper, ehe er die Obduktion beendet. Nachdem er sich gewaschen hat, stellt er sich ans Fenster und blickt auf die bewaldeten Hügel hinaus, die in der untergehenden Sonne rot leuchten. Er fragt sich, ob er der einzige ist, der Janines Geheimnis kennt, und beschließt intuitiv, es nicht in den Obduktionsbericht aufzunehmen. Auch wenn dies nicht den Vorschriften entspricht, ändert sich in seinen Augen dadurch nichts. Er weiß auch so, daß sie ertrunken ist. Um ihre Taille hatte sie sich einen reißfesten Stahldraht gebunden, und in ihren Kleidern lagen Bügeleisen und schwere Teile von Abflußrohren. Ein Verbrechen kann ausgeschlossen werden, und deshalb braucht er auch nicht schriftlich festzuhalten, daß Janine ein Kind erwartete, als sie starb.
In dem Haus am Fluß beugt Erik Olofson sich über eine Seekarte. Er rückt seine Brille zurecht und lotst seinen Kahn mit dem Zeigefinger durch den Malakkasund. Er riecht das Meer und sieht die glitzernden Lichter entfernter Schiffe auf Gegenkurs. Im Hintergrund rauschen die Ätherwellen im Radio. Vielleicht sollte ich doch, denkt er. Wie wäre es zum Beispiel mit einem kleinen Frachter, der mit Stückgut die Küste entlangfährt? Vielleicht sollte ich doch …
Und Hans Olofson? Er erinnert sich nicht mehr, wer es ihm erzählt hat. Aber jemand hat davon gehört, und er erfährt, daß Janine tot ist. Sie, die jeden Samstag mit einem Transparent an der Straßenecke zwischen Gewerkschaftshaus und Eisenwarengeschäft gestanden hat. In dieser Nacht verläßt er sein möbliertes Zimmer, das er schon verabscheut, und streunt ruhelos durch die dunkle Stadt. Er versucht sich einzureden, daß ihn keine Schuld trifft, ihn nicht und auch sonst niemand. Dennoch weiß er es. Mutshatsha, denkt er. Dorthin wolltest du reisen, dort war dein Traum. Aber du bist nie aufgebrochen, und nun bist du tot.
Ich lag einmal hinter einem eingestürzten Brennofen in der alten Ziegelei und erkannte, daß ich ich war und kein anderer. Aber dann? Jetzt? Er fragt sich, wie er es vier Jahre an der fremden Schule aushalten soll. In seinem Innern tobt ein ewiger Kampf zwischen Zukunftsglauben und Resignation, aber er versucht, sich Mut zu machen. Man muß leben, als würde man ständig neue Expeditionen vorbereiten, denkt er. Entweder man lebt so, oder aber man wird wie mein Vater.
Plötzlich beschließt er, eines Tages nach Mutshatsha zu fahren. Irgendwann wird er die Reise antreten, die Janine niemals gemacht hat. Der Beschluß ist ihm sofort heilig. Der denkbar brüchigste Sinn hat sich ihm nun doch noch offenbart. Der Traum eines anderen, den er sich zu eigen macht …
Leise stapft er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und hat das Gefühl, ihm steige der Geruch aus der Wohnung der alten Westlund in die Nase: Äpfel, saure Drops. Auf dem Tisch erwarten ihn seine Schulbücher, aber in Gedanken ist er bei Janine.
Vielleicht heißt erwachsen werden, die eigene Einsamkeit erkennen, denkt er und bleibt noch lange sitzen.
Wieder
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