Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
nimmst mich auf den Arm!“
Er lachte wieder, und je öfter er lachte, umso wärmer wurde mir zumute.
Ich beschloss, strenger zu sein und mich nicht von seinem Charme einwickeln zu lassen. „Du weichst mir bloß aus“, beschwerte ich mich. „Immer wenn ich dich frage, wo du wohnst oder was du hier machst, willst du mich ablenken.“
„Ich sage doch, ich lebe hier“, verteidigte er sich, aber in seinen schwarzen Augen blitzte es belustigt auf.
„In den alten Gemäuern da hinten gibt es bloß Staub und Motten.“
„Und wie kommst du auf die Idee, das würde mich stören?“
Da hatte er auch wieder recht.
„Du kannst mich dort gerne mal besuchen“, sagte er.
Ich wollte ihn nicht wissen lassen, wie sehr mich dieses Angebot freute. „Hör auf zu flirten.“
„Ich flirte doch gar nicht!“
„Tust du wohl.“
Ich war sonst eigentlich nie so. So locker, mit einem Jungen, der mir gefiel. Normalerweise bekam ich nicht den Mund auf, und Tatjana stand neben mir und quatschte den armen Kerl in Grund und Boden, bis er die Flucht ergriff. Eigentlich war ich überhaupt nicht dazu fähig, mit Jungs zu reden. Aber mit Rico war es anders. Es war, als wäre ich schon immer ein Mädchen gewesen, das gar nicht schüchtern war und es im Flirten locker mit Tatjana aufnehmen konnte. Er war mir immer noch fremd, nur dieses Lächeln, das war mir jetzt schon so vertraut, als hätte ich gewusst, dass es irgendwann einmal da sein würde, für mich. Das Lächeln in dem blassen Gesicht passte zu diesen herrlichen Augen. Ich hatte mich geirrt; er war ganz anders als die attraktiven Jungs an unserer Schule oder im Bekanntenkreis meiner Eltern, die genau wussten, dass sie gut aussahen und die keine Gelegenheit ausließen, sich vor einem Mädchen in Pose zu werfen. Ricos Lächeln war anders - als hätte er gerade eben erst entdeckt, dass er zu so einem Lächeln fähig war. Als hätten wir beide zu unserer eigenen Überraschung herausgefunden, dass wir flirten konnten.
„Alicia!“ Ein lauter Ruf von der Terrasse her brach den Zauber.
„Das ist Sabine“, seufzte ich. „Ich glaube, sie ruft mich.“
„Scheint so“, stimmte er mir zu, doch er klang nicht enttäuscht, eher erwartungsvoll.
Er lächelte Sabine entgegen, als sie durch die Öffnung in der Hecke anmarschierte, doch sie ignorierte ihn komplett.
„Alicia! Hast du mich nicht gehört?“, rief sie ungehalten. „Herr Riebeck ist da, wir wollen zusammen zu Abend essen.“
„Alles klar“, sagte ich und raffte meine Sachen zusammen. Würde sie Rico auffordern, mitzukommen? Wenn er kein Angestellter, sondern ein Gast war, hätte das eigentlich selbstverständlich sein müssen. Aber sie grüßte ihn nicht einmal, und das Strahlen in seinem Gesicht löste sich langsam auf. In seine Augen trat ein scheuer, vorsichtiger Ausdruck.
„Bis morgen“, sagte ich leise.
Er antwortete nicht.
Ich folgte Sabine ins Haus. Sie fragte mich nicht, warum ich mich mit ihm unterhalten hatte, oder machte mir Vorwürfe deswegen. Nicht einmal das. Sie hätte mich ja zum Beispiel warnen können, dass ein unverschämt gut aussehender Junge auf dem Anwesen lebte und ich mich vor ihm in Acht nehmen sollte. Weil … keine Ahnung, warum. Weil er ein jugendlicher Straftäter war, dem Onkel Vincent aus Mitleid eine Stelle gegeben hatte? Höchst unwahrscheinlich. Aber wenn nichts gegen ihn sprach, warum tat sie dann so, als hätte sie ihn nicht bemerkt?
Arrogante Ziege, dachte ich. Falls ich in einem Märchen gelandet war, war Sabine Hexe Nummer zwei.
„Ob da jemand wohnt?“, fragte Onkel Vincent und runzelte die Stirn. „Wie kommst du denn darauf?“
„Ich … weiß nicht“, stammelte ich. Mir fiel kein Grund ein, warum er es nicht einfach zugeben sollte - wenn es denn überhaupt stimmte.
„Diese Gebäude sind mehr als baufällig. Nicht nur das Kutscherhaus. Das trifft ebenso auf das alte Gewächshaus zu und noch für ein paar Schuppen und Lagerhäuser. Die stehen alle seit Jahrzehnten leer. Du solltest dich dort besser nicht herumtreiben, Alicia. Nicht, dass du irgendwo einbrichst oder dir ein Balken auf den Kopf fällt. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Glasklar“, sagte ich und biss mir auf die Lippe. Rico hatte mich also angeschwindelt. Während ich mir vorgestellt hatte, dass wir auf einer Wellenlänge waren und er mich mochte, hatte er mich eiskalt belogen. Ohne das süße Lächeln abzusetzen, das mir so gefallen hatte.
Mist.
„Warum hast du diese Ruinen nicht
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