Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
studieren soll und wie ich zu sein habe. Ich soll einmal eine Firma leiten? Ich? Dabei leben wir doch in einer Welt, in der man selbst entscheiden kann! Oder zumindest heißt es das immer. Was denkst du darüber? Ist es fair, wenn andere die wichtigsten Entscheidungen meines Lebens treffen?“
Rico dachte eine Weile darüber nach. „Das Leben ist nicht fair“, sagte er schließlich. „Garantiert würden unzählige Menschen gerne mit dir tauschen, aber sie haben keine Wahl. Manchmal geschehen Dinge mit einem … Manchmal ist man zu schwach, um sich zu wehren. Oder zu jung.“
„Was meinst du damit? Dass ich jetzt nicht anders kann als mitzumachen, aber später werde ich es irgendwann können?“
„Vielleicht“, murmelte er.
Wir schwiegen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein würde, wenn ich erwachsen war. Aber hatte man sich, wenn man erst älter war, nicht so an alles gewöhnt, dass man gar nicht mehr anders leben konnte? Ganz gleich, ob man es wollte oder nicht? Würde ich sein wie meine Mutter, die ihre Freundinnen danach aussuchte, wie reich und angesehen sie waren?
„Jetzt bist du an der Reihe“, sagte ich. „Wovor fürchtest du dich am meisten?“
Sein Gesicht hatte nichts von dem arroganten Internatsschüler bei unserer ersten Begegnung. „Vor der Einsamkeit“, flüsterte Rico.
Er ballte die Fäuste, und ich fürchtete, dass die Bewegung seine Falter erschrecken würde, sodass alle auf einmal aufflogen, aber die grauen Flecken auf seiner Jacke blieben sitzen. Auf einmal hatten die teuren Klamotten keine Bedeutung mehr. Rico wirkte so verloren, dass ich am liebsten den Arm um ihn gelegt hätte, aber ich traute mich nicht. In diesem Moment wirkte er unendlich weit entfernt, und er starrte auf den Teich und die Seerosen, als hätte er mich vergessen.
„Hast du keine Freunde? Keine Familie?“
Doch er war so in Gedanken versunken, dass er mich gar nicht wahrnahm.
„Sorry“, sagte ich leise. „Tut mir leid, war wohl die falsche Frage.“
Er drehte sich so unvermittelt zu mir um, dass ich zusammenzuckte und rückwärts vom Baumstamm fiel. Rico streckte die Hand nach mir aus, aber er griff daneben oder er war nicht schnell genug. Unsere Hände verfehlten einander, und ich landete mit dem Rücken in den Blumen, wobei meine Beine unvorteilhaft in die Höhe ragten.
Wenigstens lachte er nicht, aber sauer war ich trotzdem. Sein fassungsloses Gesicht gab mir den Rest. Statt mich anzustarren, hätte er mir lieber helfen sollen!
„Was ist?“, fauchte ich. „Hilfst du mir nicht hoch?“
Rico beugte sich vor, als wollte er die Hände nach mir ausstrecken - doch im letzten Moment zögerte er, ein Schatten huschte über sein Gesicht, und er verhielt mitten in der Bewegung.
War es wirklich so schwer, mir die Hand zu geben? „Vielen Dank auch“, knurrte ich, und als ich mich mühsam aufgerappelt hatte, war er fort.
„Man merke“, rief ich ihm böse nach, „Unfreundlichkeit trägt sehr zu Einsamkeit bei. Rico? Hörst du mich noch? Das war nicht nett!“
Irgendwo flog ein Vogel auf. Das goldene Licht auf den Wellen färbte sich rötlich, während die Sonne hinter der Mauer verschwand.
Ich rechnete nicht damit, diesen unhöflichen Kerl wiederzusehen, doch am nächsten Tag erschien er wieder am Pool. Er saß unter seinem Lieblingsbaum und ließ Albert über seine Finger spazieren, und während er stumm Zwiesprache mit dem Falter hielt, sah ich in Ricos Gesicht tausend Schatten und eine Einsamkeit. Das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn, als wollte er sich dahinter verstecken, und ein bitterer Zug hatte Furchen um seine Mundwinkel gegraben, was ihn Jahre älter aussehen ließ. Ich war drauf und dran, ihm wegen unterlassener Hilfeleistung meine Meinung zu geigen, und sagte doch nur: „Schön, dass du da bist.“
Rico hob den Kopf und blickte mich an, so düster, so fremd, jemand, der nicht an diesen Ort gehörte, an dem alle seine Existenz verschwiegen, und der es genau wusste. Ausgerechnet in diesem Moment, wütend und verwirrt, wie ich war, schmolz mein Herz. Er sah so verloren aus, und Bilder von Mottenschwärmen zuckten durch mein Hirn. Wirbelstürme von Faltern, die über dem Staub tanzten. Lidlose Augen auf hauchzarten Flügeln. Freundliche Fühler, die über seine Hand tasteten, die er mir niemals reichte.
„Ich bin immer hier“, sagte er ernst.
Wir trafen uns jeden Abend. Im Wald am See. Oder am Pool. Selbst als es drei Tage lang regnete, fand Rico sich an unserem
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