Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
und durfte mir nichts anmerken lassen, und bis zum Abend kam mir meine Trauer reichlich übertrieben vor, als würde ich um etwas heulen, das ich nie besessen hatte.
Sollte dieser blöde Rico mir doch den Buckel herunterrutschen mit seiner Geheimnistuerei! Sollte ich mir davon diesen Sommer verderben lassen? Ganz bestimmt nicht.
„So ist es recht“, flüsterte Frau Behr mir zu, „so gefällst du mir schon viel besser.“
Still und verwunschen lag der Teich zwischen den Bäumen, das Licht der Abendsonne glitzerte auf dem Wasser. Von feenhaften Libellen umschwärmte Seerosen blühten üppig in Weiß und Rosa. Das Wasser war glasklar und spiegelte die langen Zweige der Weide. Da es keine Bank gab, setzte ich mich auf einen umgestürzten Baumstamm, der bestimmt extra zu diesem Zweck hergerollt worden war, und zog mein Skizzenbuch hervor.
Frau Behr als Hexe … das kam mir nun völlig daneben vor. Heute würde ich es wiedergutmachen und sie wesentlich netter darstellen, freundlich und weise, eher eine gute Fee. Ich setzte die Spitze meines Bleistifts aufs Papier.
Und hob den Blick, als ich eine Bewegung zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Teichs wahrnahm. Hastig wandte ich mich wieder der Aufgabe zu, aber meine Finger wollten nicht so, wie sie sollten, und statt eines Frauengesichts wuchsen dunkle Rosen auf dem Zeichenblatt und eroberten eine zerfurchte Mauer.
Plötzlich stand Rico vor mir, und vor Schreck hätte ich fast mein Skizzenbuch ins Wasser geworfen. Wie kam er so schnell hierher? War er über den Teich gelaufen? Von einem Seerosenblatt zum anderen gesprungen?
Meine Hand krampfte sich um den Stift. Die Mauer. Ein Dach. Es ähnelte der windschiefen Karikatur eines Hexenhäuschens.
„Sprichst du nicht mehr mit mir?“, erkundigte er sich.
„Nein, tu ich nicht.“ Ich zwang mich dazu, ihn nicht anzusehen, während ich eine Eidechse skizzierte.
Er atmete erleichtert aus, was mich wunderte. Wieso war Rico erleichtert, dass ich nicht mit ihm sprach?
„Ich dachte schon“, murmelte er.
Da konnte ich nicht anders. Ich hob den Kopf und stellte fest, dass er vor mir kniete und unsere Augen auf gleicher Höhe waren. Nie hatte irgendjemand mich so angesehen, so … intensiv. Ich konnte seinen Blick immer noch nicht deuten. Vielleicht war es Liebe, vielleicht Hass, vielleicht auch nur Interesse. Was heißt nur ? Ein solches Interesse jagte ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper.
„Hast du mir meine Eule mitgebracht? Natürlich hast du keine Ahnung, wovon ich spreche. Wie auch. Dazu müsstest du ja im Kutscherhaus ein und aus gehen. Dann hättest du sie todsicher bemerkt.“
„Ich … ich hab eine Eule gesehen“, flüsterte er.
Es machte mich wütend, dass er nicht aufhören konnte zu lügen. „Ach ja? Ich war da“, sagte ich. „Beim Kutscherhaus.“
„Und?“
„Was heißt und? Dort wohnt niemand, alles ist voller Staub. Da wohnt seit fünfzig Jahren keiner mehr. Oder seit hundert. Nur Staub und Spinnen und Motten. Tausende! Das war richtig unheimlich.“
„Normalerweise verstecken sie sich tagsüber. Du musst sie aufgeschreckt haben.“
„Das ist doch nicht normal“, flüsterte ich. Da er nicht antwortete, biss ich mir auf die Zunge und senkte den Blick wieder auf meine Zeichnung.
Rico setzte sich neben mir auf den Baumstamm, wofür ich ihm dankbar war, denn ich wusste nicht, wie lange ich diese schwarzen Augen noch ausgehalten hätte.
„Hast du überall nachgesehen?“, fragte er, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten und nur das Kratzen der Mine auf dem Papier zu hören war.
„Nein“, knurrte ich. „Wie denn, wenn da Millionen von Motten herumschwirren? Und erzähl mir nicht, dass du auf dem Dachboden haust. Mein Onkel würde niemanden in einem einsturzgefährdeten Haus wohnen lassen. Schlechte Presse, weißt du, wenn was passiert. Jemand wie er fürchtet doch nichts so sehr wie einen Skandal, der in allen Zeitungen steht.“
„Was fürchtest du am meisten?“
Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, dass es Fragen gab, die schlimmer waren als Antworten. Ich war versucht, zu lachen und irgendetwas Albernes darauf zu erwidern, aber das leichte Beben in seiner Stimme ließ mich zögern.
„Ich weiß nicht“, sagte ich leise. „Vielleicht …“
„Ja?“
„Dass die Zukunft in Zement gegossen ist. Dass alles vorherbestimmt ist, was ich tue und was ich werde.“
„Du meinst, vom Schicksal?“
„Nein, von meinen Eltern. Die mir sagen, was ich
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