Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Pause machten. Keiner der Gärtner war zu sehen, um mich aufzuhalten, als ich mit dem Rad über den gepflegten Rasen bretterte. Vielleicht beobachteten sie mich vom Haus aus, aber falls man mir Vorhaltungen machen würde, würde ich eben sagen, mir wäre nicht klar gewesen, dass ich das nicht durfte. Mit sechzehn halten einen die meisten Erwachsenen sowieso nicht für zurechnungsfähig, daher ging ich davon aus, dass ich damit durchkam. Trotzdem war ich erleichtert, als ich den Schatten unter den Bäumen erreichte.
Hier ließ ich das Fahrrad stehen und ging zu Fuß weiter.
Das Gewächshaus hatte ein paar zersprungene Scheiben, drinnen dorrten verschiedene Pflanzen vor sich hin. Wildes, dorniges Gestrüpp, von der Sonne vertrocknet, und ein paar exotisch aussehende Bäume mit welken Blättern, die dringend Wasser brauchten. Die waren wohl von der alten Orangerie übriggeblieben und hatten sich bis jetzt behauptet. Und über allem und durch alles hindurch rankten sich Rosen. Sie erklommen die metallenen Streben, umschlangen jeden Balken und jeden Vorsprung, und sie blühten wie verrückt. Die Rosen in den Beeten am Schloss waren weiß und gelb, rosa, pfirsichfarben und rot, es gab gefüllte und ungefüllte, duftende und solche, die bloß hübsch aussahen. Doch keine davon war mit diesen Rosen vergleichbar. Sie waren so dunkel, dass sie schwarz wirkten, die riesigen Blüten waren dicht gefüllt, und sie verströmten einen dermaßen intensiven Duft, dass mir schwindlig davon wurde.
Ich streckte die Hand nach einer Rosenblüte aus, die mir durch das zerbrochene Glas entgegenwuchs, und stach mich natürlich heftig am Daumen. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, die Blume unter das Haarband zu stecken, das ich heute trug. Vielleicht würde es Rico positiv auffallen - wenn ich ihn denn überhaupt hier antraf.
Wohnlich wirkte der Ort nicht unbedingt. Das alte Kutscherhaus war aus roten Ziegeln gebaut und sah aus, als könnte es jeden Moment einstürzen. Das Dach war leicht eingedrückt und die Dachpfannen moosbedeckt und verwittert. Mehrere Schuppen gehörten zu der Anlage, vielleicht auch ehemalige Ställe. Der Größte besaß sogar einen hohen Ziegelturm. Es waren viel mehr Gebäude, als ich erwartet hatte, und ich fand mich auf einem gepflasterten Platz wieder, auf dem ich mich wie in einer anderen Welt fühlte, wie in einem winzigen, verlassenen Dorf. Eine Eidechse sonnte sich auf den warmen Steinen. Fehlten nur noch die Hühner und Katzen, vielleicht ein Hund, und auf der zerfallenen Bank dort müsste der alte Kutscher sitzen und das Zaumzeug putzen.
Hör auf zu träumen, befahl ich mir. Du hast nur eine Stunde und die Hälfte davon ist schon fast um.
Ich wandte mich zum Kutscherhaus. Die Haustür bestand aus morschen Brettern. Ich versuchte durch die Ritzen hindurchzuspähen, konnte aber nichts erkennen. Der schmiedeeiserne Griff knarrte, als ich daran zog, und die Tür ging mit einem mitleiderregenden Ächzen auf.
Vor mir lag ein großer Raum, der vielleicht mal eine Küche gewesen sein mochte. Durch die geschlossenen Fensterläden kämpfte sich das Licht; schmale goldene Streifen tanzten mit den Staubflocken. Alles war mit einer dicken Schicht aus Staub bedeckt, aber durch irgendein Loch im Dach waren auch Blätter und kleine Zweige hereingeweht. Spinnweben hüllten den einsamen Herd in der Ecke ein. Ein weiteres Netz spannte sich im Türrahmen, wie mir gerade jetzt auffiel, als mein Blick weiterwanderte. Fast wäre ich hineingelaufen. Es hing ungefähr in Kopfhöhe; noch ein Schritt weiter und ich hätte die klebrigen Fäden in den Haaren. Die Spinne hielt sich verborgen, aber vorsichtshalber rührte ich mich nicht von der Stelle.
„Rico?“, fragte ich leise.
Von draußen sah es hier nicht wirklich bewohnt aus. Oder war im nächsten Zimmer alles anders? Doch um das zu überprüfen, hätte ich reingehen müssen.
„Rico?“, fragte ich ein zweites Mal.
Ach, Unsinn, wenn jemand in dieser Bruchbude wohnte, hätte hier doch gar kein Staub gelegen! Wer hätte denn so leben können? Ein Obdachloser, der sich mit einer Zeitung zudeckte? Ich duckte mich unter dem Spinnennetz hindurch und warf einen Blick um die Ecke, ob ich vielleicht Flaschen oder sonst etwas entdeckte. Eigentlich absurd, denn das Grundstück wurde bestens bewacht. Ich war mit meinem Schlüssel durchs Tor gekommen, aber bestimmt hatte mich irgendeine Kamera dabei gefilmt, und wenn ich jemand Unbefugtes gewesen wäre, wären die Wachleute
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