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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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zurück zum Haus. Nie wieder, schwor ich mir, nie wieder würde ich auch nur ein einziges Wort mit ihm wechseln! Und dabei wusste ich doch schon, dass ich auch am nächsten Abend in den Garten gehen würde, um ihn zu suchen, wie man nach etwas sucht, das verloren ist.

    „Ich bin achtzehn.“
    Rico saß auf dem Baumstamm und spielte mit einer Motte, die um seine Finger herumkroch. Albert? Vielleicht konnte ich ihn gegen Sauron, das allwissende Auge über meinem Kopfkissen, kämpfen lassen und wäre beide auf einen Schlag los.
    „Aha“, sagte ich. Sollte Rico ruhig wissen, dass ich immer noch sauer war. „Und das ist die Wahnsinnsinformation, die du nicht aussprechen konntest? Ich bin echt beeindruckt. Achtzehn. Nun hat sich die ganze Welt verändert.“
    Er blickte auf. Statt gekränkt zu sein, spielte ein Lächeln um seine Lippen.
    „Nun ja, ich hätte ja auch zwanzig sein können. Dann wäre der Altersunterschied zwischen uns gewaltig.“
    „Und warum sagst du das nicht gleich?“
    Albert öffnete die Flügel und schwebte davon. Ein paar Dutzend rötlich gemusterter Falter folgten seinem Beispiel und schwärmten aus. Ricos Anzug wirkte auf einmal richtiggehend verwaist.
    „Ich bin es nicht gewöhnt, über mich zu reden.“
    „Das merkt man“, entfuhr es mir. „Aber das kann man lernen, glaub mir.“
    Das musste ausgerechnet ich sagen! Fräulein Vanderen, der man verboten hatte, jemals etwas über sich und ihre Familie preiszugeben.
    „Wann hast du denn Geburtstag?“, fragte ich.
    Er streckte die Hand aus und etwas ungewöhnlich Großes surrte heran und ließ sich auf seinem Zeigefinger nieder. Der Falter rieb sich gemächlich die dünnen Vorderbeine, wobei Rico ihn liebevoll beobachtete.
    „Hey“, sagte ich, nachdem er mich eine Weile ignoriert hatte, „das ist ja nun wirklich keine sooo schwere Frage, oder?“
    „Im September. Am dreiundzwanzigsten.“ Er ließ den Falter von seiner rechten auf die linke Hand wandern.
    „Das klingt, als hättest du dir das gerade eben ausgedacht.“
    „Nein, wirklich“, protestierte er. „Hab ich nicht! Was ist am dreiundzwanzigsten September auszusetzen?“
    Dann war ich nicht mehr hier. Die Wochen flogen nur so dahin, bald waren die Ferien vorbei, und ich würde diesen Jungen nie wiedersehen.
    Ich will dich nicht verlieren, dachte ich, aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Wie hätte das denn geklungen? Als wenn ich mich für seine Freundin halten würde. Wir waren ja nicht zusammen, wir trafen uns bloß hier im Garten. Nur so, fast zufällig. Ich war schließlich keine seiner Motten, die auf ihn flog.
    „Fühlen sich diese winzigen Füßchen nicht … eklig an?“, stammelte ich.
    „Du weichst mir aus.“ Seine dunklen Augen waren unglaublich. Es kam mir vor, als würde er mich damit verbrennen. Und wieder anzünden. Und wieder verbrennen. Mir war schon ganz schwindlig davon.
    „Ach, und du nicht?“
    „Wir sind also beide ganz gut im Ausweichen.“
    „Ja“, gab ich zu. „Stimmt wohl. Ich wünschte …“
    „Ja?“, fragte er leise.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen. „Ich wünschte, dieser Sommer würde nie enden. Ich wünschte, ich könnte immer hierbleiben.“
    „Das wünsche ich mir auch“, sagte er ernst, und wieder konnte ich es kaum aushalten, wie er mich anschaute. Dann ertrug er es selbst nicht mehr, denn er wandte sich wieder seinen Händen zu und musste feststellen, dass sich der graue Falter lautlos verkrümelt hatte. Wahrscheinlich tarnte er sich gerade woanders.
    Hoffentlich nicht auf mir.
    Ich hielt die Luft an. Mir war, als müsste irgendetwas geschehen. Irgendetwas Bedeutsames. Das Licht unter den Bäumen flimmerte golden und spiegelte sich im Teich, aber das war noch nicht genug.
    „Darf ich dich küssen?“, fragte Rico.
    Mein Herz schlug schneller. Es galoppierte davon, in einen goldenen Sonnenuntergang hinein. „Ja“, flüsterte ich.
    „Mach die Augen zu.“
    Ich spürte den Wind, der oben in den Zweigen rauschte. Hörte zu, wie die Amseln um die Wette flöteten.
    Wartete.
    Ich sagte ihm nicht, dass es mein erster Kuss war, wenn man Tim im Kindergarten nicht mitzählte. Nein, ein harmloses Küsschen im Alter von fünf Jahren zählte mit Sicherheit nicht.
    Wo blieb mein Kuss?
    Bitterer Zorn ballte sich wie eine Faust um meinen Magen und mein Herz. Ich war darauf gefasst, dass Rico davongelaufen war. Doch als ich die Augen aufmachte, begegnete ich seinem Blick. Er stand vor mir, unsere Gesichter waren einander ganz

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