Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Treffpunkt ein, und wir spazierten ein, zwei Stunden durch den Garten und redeten. Es gab allerdings tausend Themen, über die er nicht sprechen wollte. Wo er wohnte, was er hier machte. Ob er noch zur Schule ging. Wie alt er war. Fast jeder Abend endete damit, dass ich mich schrecklich über seine Verschlossenheit ärgerte und schwor, nie wieder mit ihm zu sprechen. Manchmal machte er sich einfach davon, das war am schlimmsten. Oft genug war ich kurz davor, schreiend vor Wut und Enttäuschung wegzurennen. Aber das entsprach nicht meiner Erziehung. In der Familie Vanderen tat man immer so, als sei alles in Ordnung, und zum ersten Mal fand ich eine Gelegenheit, um das Gelernte praktisch anzuwenden. Ich ignorierte einfach alle seine Seltsamkeiten.
„Hast du Geschwister?“
Es war einer dieser Regentage. Ich hatte einen Schirm mitgebracht und schlenderte damit durch das Wäldchen, bis Rico zu mir stieß. Wir waren beunruhigend nahe an dem zerfallenen Kutscherhaus, aber jetzt war er ja bei mir. Ich hatte mir geschworen, nicht wieder allein dort hinzugehen.
Rico duckte sich unter meinen Schirm.
„Geschwister?“, fragte er zurück.
„Du weißt schon“, sagte ich. „Diese nervigen Lebewesen, die dieselben Eltern haben wie man selbst. Man kann sie in Brüder und Schwestern einteilen, je nachdem, welches Geschlecht sie haben.“
Er lachte nicht.
Mist, hatte ich schon wieder ein Thema angeschnitten, über das er nicht reden wollte?
„Ja“, antwortete er schließlich zu meiner Überraschung. „Habe ich.“
Komisch, aber aus irgendeinem Grund hätte ich ihn eher für ein Einzelkind gehalten. In meiner Fantasie hatte ich ihm reiche Eltern angedichtet, die Sorte, die nur ein Kind haben, um zu beweisen, dass sie eins bekommen können. Damit ja niemand denkt, sie wären reich und kinderlos und unglücklich.
„Ich hatte einen Bruder“, fuhr Rico fort. „Aber er ist … weg.“
„Wie, weg?“
„Wir waren immer zusammen, aber dann war er plötzlich nicht mehr da. Ich habe ihn gerufen. Immer wieder, gerufen und gerufen. Er ist nie mehr wiedergekommen. Er hat mich allein gelassen.“
„Das tut mir leid“, sagte ich hilflos, aber ich fand diese Geschichte mehr als seltsam. Brüder verschwanden nicht einfach so.
In diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, ob Rico verrückt war und ob Onkel Vincent ihn deshalb totschwieg. Vielleicht versteckte er Rico in seinem Garten, weil er das dunkle Geheimnis des sympathischen, immer gut aufgelegten Herrn Riebeck war - ein verrückter Sohn. Aber dann wäre Rico mein Cousin gewesen, und ich wollte auf keinen Fall, dass wir verwandt waren. Außerdem würde Onkel Vincent seinem Sohn niemals diesen Namen geben. Das war einfach undenkbar.
Irgendwie kam mir das alles fast ein bisschen zu vertraut vor. Beim Meyrink-Fall waren gleich zwei Kinder verschwunden, aber trotzdem. Verschwundene Kinder waren das Trauma meiner Familie.
„Wer bist du, Rico?“, fragte ich, obwohl ich mir geschworen hatte, ihn nie wieder zu fragen, weil das zwangsläufig im Streit endete. „Sag mir endlich, was du hier eigentlich machst. Was soll das sein? Ein Scherz? Dann lass dir gesagt sein, dass ich das alles andere als lustig finde.“
Der nächste Streit war vorprogrammiert. Oh, ich hatte genug von ihm, wirklich genug!
Rico war stehen geblieben. An diesem düsteren, verregneten Abend war er noch blasser als sonst. Regentropfen perlten über seine Haare. Die Falter hatten sich verkrochen, doch ausgerechnet jetzt steckte Albert oder jemand, der ihm erschreckend ähnlich sah, die Fühler hinter der gestreiften Krawatte hervor und wedelte damit über Ricos weißes Hemd.
„Ich weiß nicht, was ich hier mache“, sagte er leise. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich bin hier, und die anderen sind alle fort.“
Es überlief mich kalt. Unwillkürlich trat ich ein paar Schritte von ihm fort.
„Was soll das?“, rief ich. „Ich halte das nicht mehr aus! Warum machst du aus allem so ein Geheimnis? Warum kannst du mir nicht einfach die Wahrheit sagen?“
Der Regen tropfte auf ihn herunter. Rico stand bloß da, genauso hilflos wie ich.
„Bitte!“ Obwohl ich unter dem Schirm stand, rannen Tropfen meine Wangen hinunter. „Bitte, spiel nicht mit mir.“
Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken, und in seinen schönen schwarzen Augen brannte die Verzweiflung.
„Ich bin hier“, sagte er. „Das ist die ganze Wahrheit, die einzige Wahrheit. Ich und meine Nachtfalter.“
Ich rannte
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