Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
nah. Ich hatte nicht gehört, wie er nähergekommen war. Rico schaute mich bloß an, ohne mich zu berühren.
„Was soll das?“, fragte ich. „Wolltest du bloß ausprobieren, ob ich bereit bin, mich von dir küssen zu lassen?“ Ich fand keine Worte dafür, wie grausam das war.
„Es geht nicht“, stieß er hervor, gerade als ich dachte, noch verletzter könnte ich mich nicht fühlen. „Nicht … so.“ Er verzog schmerzhaft das Gesicht und brachte sich rückwärts aus meiner Reichweite, als hätte er Angst, ich könnte ihn packen und abknutschen.
„Ist schon gut“, sagte ich und versuchte, den letzten Rest von Würde in mir zu finden und zusammenzukratzen. „Bleiben wir einfach Freunde.“
„Nein“, sagte er.
„Nein? Also auch keine Freunde?“
Er wandte sich ab und ballte die Fäuste. Eine Weile stand er gekrümmt da, als hätte er Schmerzen, dann wandte er sich wieder mir zu. „Ich möchte dich so gerne küssen, Alicia. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Aber das hier ist nicht der richtige Ort. Wenn du mich findest …“ Er suchte nach Worten, und nur weil er sich so offensichtlich quälte, konnte ich ihm den Nicht-Kuss verzeihen. „Wenn wir wirklich zusammen sind …“
Er wollte, dass wir zusammen waren? Hatte ich richtig gehört? Mein Herz begann vorsichtig weiterzuschlagen.
„Ja?“, fragte ich zaghaft. Vielleicht gab es ja eine Freundin, die noch nichts davon wusste, dass sie jetzt seine Ex war. Eigentlich verdammt anständig von ihm, das vorher zu klären.
„Wenn du zu mir kommst statt ich zu dir, wenn du in meinen Garten kommst - dann können wir uns küssen. Vorher nicht.“
„Was soll das denn bitte schön heißen?“, rief ich aus.
„Ich muss nachdenken“, sagte er, und bevor ich ihn fragen konnte, worüber, rannte er davon.
Marie-Sophie Pauline alias Tatjana
Tony lächelte mir verschwörerisch zu, während er Tatjana auslud. Mitsamt ihrem rosa Köfferchen und einem großen Korb und einer Wagenladung Taschen. Diesmal stand ich auf der Treppe und wartete, und ja, ich genoss ihre großen Augen.
„Wow“, sagte sie. „Du lieber Specht. Das ist ein Hotel hier, oder?“
„Nö“, sagte ich. „Ein ganz normales Wohnhaus, sieht man doch. Single-Haushalt.“
Es kam äußerst selten vor, dass Tatjana sprachlos war. Sie stand da inmitten ihres Taschenhaufens und drehte sich im Kreis.
„Mund zu“, empfahl ich freundlich.
„Hier wohnen wir? Das ist dein ödes Dorf, in dem du nicht allein sein willst? Das hier?“ Tatjana hatte die Angewohnheit, in ohrenbetäubender Lautstärke zu kreischen, wenn sie sich aufregte.
„Scheint so“, meinte ich trocken. „Aber deine Taschen musst du trotzdem selbst schleppen. Sabine hat den Auftrag, sich um uns zu kümmern, aber ich glaube nicht, dass sie dein Gepäck tragen wird. Mein Onkel ist mal wieder unterwegs. Irgendwas absolut Wichtiges, wie immer.“
Tatjana verstummte vorübergehend, presste ihren Korb an sich und folgte mir ehrfürchtig die Treppe hinauf. Als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, lachte sie so laut, dass ihr Lachen sich auf merkwürdige Weise verdoppelte.
Nein, das zweite Lachen war gar keins. Es war eher … ein Bellen!
„Sag, dass das nicht wahr ist“, stöhnte ich. „Du hast Winky nicht mitgebracht. Sag, dass du sie nicht mitgebracht hast!“
Tatjana stellte den Korb aufs Bett, zog das Tuch zur Seite, und ein winziger hässlicher Hund kämpfte sich ins Freie.
„Oh nein“, flehte ich. „Onkel Vincent verabscheut Hunde!“
„Winky ist kein Hund“, sagte Tatjana bestimmt. „Sie ist ein Bellkaninchen. Ein Taschenhase. Die darf man überallhin mitnehmen. Beleidige sie nicht, sie liebt dich.“
„Ja, ich liebe sie ja auch.“ Ich ließ mich aufs Bett sinken und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Onkel Vincent war netter, als ich erwartet hatte, aber ob er das hier hinnehmen würde … Auf keinen Fall durfte er uns alle nach Hause schicken. Nicht ausgerechnet jetzt! Ich kannte noch nicht mal Ricos Nachnamen, geschweige denn seine Telefonnummer. „Wie kannst du mir das antun?“
Statt sich mit Erklärungen abzugeben, tanzte Tatjana durchs Zimmer. „Oh, ist das alles toll! Ich liebe dich!“ Sie umarmte mich stürmisch und bekam einen Schreikrampf, als sie aus dem Fenster in den Garten hinaussah. „Das gehört hier deinem Onkel? Oh, das ist … ooooaaaah! Hat er im Lotto gewonnen? Ist er ein Graf oder so was?“
Winky tänzelte stürmisch um sie herum, sie schien das alles für einen
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