Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
schon unterwegs. Kein Landstreicher würde sich die Mühe machen, die Mauer und den Stacheldraht zu überwinden, nur um in dieser Bruchbude einen Unterschlupf zu finden.
„Rico?“, rief ich noch einmal. „Bist du hier? Rico?“
Man hätte die Spuren im Staub sehen müssen, wenn hier jemand ein und aus ging. Oder? Ich mochte die Schwelle nicht übertreten und suchte in meinen Taschen nach etwas, das ich werfen könnte. Schließlich löste ich die kleine Plüscheule von meinem Schlüsselanhänger, bückte mich und warf sie flach, als wollte ich Steine über eine Wasseroberfläche springen lassen. Die Eule rutschte über den Boden, der seltsame Wellen schlug. Alles schien in Bewegung zu geraten, und plötzlich stieg das, was ich für eine dicke Staubschicht gehalten hatte, in die Luft. Eine Wolke von Motten wirbelte auf; es war wie ein Schneesturm. Als die Ersten in meine Richtung flatterten, hatte ich genug. Ich drehte mich um und rannte, als wäre der Teufel hinter mir her.
Goldenes Licht
„Wie siehst du denn aus“, sagte Frau Behr.
Ich wollte es gar nicht wissen. Verschwitzt, mit rotem Gesicht, während mir immer noch ein kalter Schauer den Rücken herunterlief. Meine Beine zitterten, deshalb ließ ich mich auf den Stuhl im Hinterzimmer sinken und wartete darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Dann fing ich auch noch an zu weinen. Ich hätte nicht einmal sagen können, wieso.
„Hast du dich verletzt? Deine Hand ist voller Blut!“
„Die verdammte Rose.“ Ich zupfte sie mir aus dem Haar und warf sie auf den Tisch, wo sie in einen Haufen dunkelvioletter Blättchen zerfiel.
Frau Behr blickte mich merkwürdig an, dann wurde sie aktiv. Sie wischte mir das Blut ab und versorgte mich mit einem übertrieben großen Pflaster.
„So, jetzt trink erst mal was.“ In einem Anfall von Fürsorge öffnete sie doch tatsächlich eine der kostbaren Flaschen mit dem Riebeck-Meyrinkschen Spezialwasser aus irgendeiner besonderen Gebirgsquelle. Es schmeckte wie ganz normales Wasser. Nachdem ich getrunken hatte, hielt ich mein Gesicht in die kühle Brise des Tischventilators und fragte mich, woher meine Tränen gekommen waren und wohin sie jetzt wieder verschwunden waren.
Frau Behr setzte sich mir gegenüber. „Was ist los, meine Liebe?“
Ich putzte mir die Nase. Der künstliche Wind vertrieb das komische Gefühl, das ich in dem verlassenen Haus gespürt hatte.
„Ich weiß nicht.“
„Heimweh?“
„Nein.“ Es kam so schnell heraus, dass wir beide lächeln mussten.
„Also kein Heimweh. Ärger mit der besten Freundin? Denn ich nehme nicht an, dass es im Schloss einfach bloß Knödel gab und du Knödel nicht ausstehen kannst.“
„Ich hab gar nichts gegessen“, bekannte ich. „Ich wollte bloß etwas überprüfen. Ein … Bekannter hat … nun, ich wollte wissen, ob er mir die Wahrheit gesagt hat.“ Meine Stimme wurde noch leiser. War Rico das, ein Bekannter? Er war kein Freund, das nicht. Bloß ein Fremder. Warum fühlte es sich dann so an, als hätte ein Freund mich verraten? „Er hat mich angelogen. Und ich weiß nicht mal, warum.“ Geschweige denn, warum es so wichtig ist, hätte ich am liebsten hinzugefügt.
„Ein Bekannter“, wiederholte sie, und aus ihrem Mund klang das Wort genauso seltsam wie aus meinem. „Ein Junge also. Nicht dein Freund. Aber einer, von dem du dir gewünscht hast, er wäre es?“
Ich nickte. Niemandem sonst hätte ich das verraten. Nicht einmal Tatjana. Sie hätte nur wissen wollen, wie er aussah. Wie alt er war. Ob er etwas hermachte.
Aber was da zwischen uns gewesen war, als er sich meine Zeichnungen angesehen hatte … das hatte nichts mit seinem hübschen Gesicht zu tun. Dieses Lächeln, das aussah, als hätte er zum ersten Mal im Leben festgestellt, dass er so lächeln konnte. Ich würde nie diesen einzigartigen Moment vergessen, in dem ich gewesen war, was ich so gut wie nie sein konnte: einfach nur ich selbst.
„Ja“, sagte ich leise. „Ich dachte, wir wären Freunde. Aber seine Freunde belügt man nicht.“
Frau Behr sagte nicht viel. Sie holte eine Pralinenschachtel aus dem Regal und schob sie mir hin, und zusammen leerten wir die Schachtel, bis es drei Uhr war und sie den Laden wieder öffnen musste.
Sie sagte nicht, dass es nicht schlimm war oder dass es bald aufhören würde wehzutun. Sie ließ mich auch nicht den Nachmittag über herumsitzen und trauern, sondern trug mir auf, die Kunden nach ihren Wünschen zu fragen. Ich musste tapfer lächeln
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