Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Auf ihn und auf alles, was ihn betraf. Ich wollte unbedingt mehr über diesen Jungen erfahren. Als würde mein Leben davon abhängen zu wissen, wo er wohnte und was er mochte. Als würde mich dieser Anblick nähren: wie der dunkelblaue Stoff des Jacketts sein Handgelenk berührte und wie eine pechschwarze Haarsträhne seine Wange streifte, als hätte jemand Tinte über ihm ausgegossen, die ihm nun übers Gesicht lief. Seine Fingernägel waren schmutzig, als hätte er damit im Dreck gewühlt - was er vermutlich tatsächlich getan hatte, in einer dieser verfallenen Ruinen -, aber seine Hände waren so schön, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er mich berührte. Dass er seine Fingerspitzen an meine Wange legte oder meine Hand ergriff. Von Kopf bis Fuß kribbelte es in mir vor Erwartung, aber Rico schaute mich bloß hoffnungsvoll an, und da fiel mir wieder ein, dass er mich aufgefordert hatte, mitzukommen.
„Ich darf das Anwesen nicht verlassen, ohne Bescheid zu sagen.“
„Wir bleiben hier. Es ist ganz in der Nähe.“
Auf dem sonnenbeschienenen Platz zwischen dem Kutscherhaus und den Schuppen war ich schon einmal gewesen. Jetzt, mit Rico an der Seite, kam es mir lange nicht mehr so grabesstill und unheimlich vor, aber gerne war ich nicht hier. Er hielt auf eins der Gebäude zu, ein großes Lagerhaus mit einem Turm, der über die Baumkronen hinausragte. Die Tür war irgendwann einmal zugenagelt worden, aber sie schwang mühelos auf.
Drinnen war es überraschend dunkel, durch die blinden Fenster drang nur trübes Licht. „Dort“, sagte Rico und hielt auf eine steile Holzstiege zu, mehr eine Leiter als eine Treppe. „Du hast doch keine Höhenangst?“
„Nein“, log ich. Es war sogar noch viel schlimmer - alles hier machte mir Angst, von der dünnsprossigen Leiter bis hin zu den Haufen von Brettern und Gerätschaften, die ich nicht klar erkennen konnte. Selbst der Staub weckte ungute Gefühle in mir, denn ich fürchtete, dass sich wieder Wolken von Motten daraus erhoben. Ich wünschte mir, Rico würde meine Hand nehmen, um mir den Mut zu geben, der mir fehlte. Am liebsten hätte ich mich an seiner Jacke festgeklammert, aber ich wollte keine Falter aufscheuchen.
„Das hier war mal eine Scheune, in der sie Stroh gelagert haben. Dort standen die Erntewagen. Da unten siehst du noch einen alten Leiterwagen“, erklärte er, während er behände hochkletterte. Staub rieselte mir ins Gesicht, aber ich wollte möglichst nah an ihm dranbleiben, daher nahm ich das in Kauf. Meine Tasche mit den Zeichenutensilien schlug gegen meine Hüfte, ich hätte sie unten liegenlassen sollen, aber jetzt war es auch egal.
Wir erreichten einen Dachboden, der mit altem Gerümpel vollgestellt war. Überall hingen Spinnweben.
„Sag nicht, dass du hier wohnst.“
„Nein, tu ich nicht.“ Er lachte, das erste Mal an diesem Abend schien seine Laune sich zu bessern. „Hier geht es hoch zum Turm.“ Wir erklommen noch eine weitere Stiege, bis uns eine schiefe Holztür den Weg versperrte.
„Nach Ihnen, Mademoiselle.“
Ich öffnete die Tür, und vor uns lag das mit verwitterten roten Schindeln bedeckte Dach.
„Mein Lieblingsplatz“, sagte Rico.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“
„Der schönste Ort auf diesem ganzen Anwesen.“
„Hey, ich dachte, du zeigst mir, wo du wohnst!“
Leichtfüßig setzte er den Fuß auf die moosüberwachsene Fläche. Das Dach war zum Glück nicht spitz, sondern an seiner höchsten Stelle etwa einen halben Meter breit; links und rechts ging es in einem recht steilen Winkel in die Tiefe. Wenn man abrutschte, blieb man mit viel Glück an der Regenrinne hängen. An der uralten Regenrinne, wohlgemerkt. Und dahinter gähnte das Nichts. Freier Fall nach unten.
„Was ist, kommst du?“ Er balancierte schon ein paar Meter weiter.
Behutsam setzte ich meinen Fuß auf. Es war irre hoch. Vielleicht waren es auch nur zehn Meter, die mir wie hundert vorkamen. Doch Rico spazierte über die Schindeln wie ein Seiltänzer.
Er drehte sich zu mir um. „Wo bleibst du?“
„Warte“, bat ich. „Ich … ich kann nicht so schnell.“
Er setzte sich in der Mitte des Daches hin und nickte mir auffordernd zu. Sein Mund lächelte, aber seine Augen waren ernst und dunkel.
„Hallo? Ich bin keine Zirkusartistin.“
„Schau nicht nach unten. Schau nur auf mich.“
Ich tat es. Bestimmt war er doch aus irgendeinem Internat ausgebrochen, indem er übers Dach geklettert war. Und was er auf Onkel
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