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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Vincents Anwesen machte, würde ich auch noch herausfinden.
    „Die Aussicht ist einfach atemberaubend. Hast du deinen Zeichenblock mit?“
    Mit wackeligen Knien setzte ich mich neben ihn. Er hatte recht. Von hier aus konnte man das Schloss sehen und die Baumwipfel und sogar einen Teil des Dorfes.
    „Natürlich. Hab ich immer.“ Ich fischte den Block aus meinem Umhängebeutel. Allerdings hatte ich nicht vor, die Landschaft zu zeichnen. Ich wollte mir nur diesen Augenblick einprägen, ihn irgendwie bannen, die Gefahr und Rico und meine tausend Gefühle. Mein Herz klopfte wie wild, pumpte Adrenalin durch meinen Körper. Alles in mir brannte, und ich wäre am liebsten aufgesprungen und auf der nur einen halben Meter breiten ebenen Fläche herumgetanzt. Ich wünschte mir, Rico würde mich küssen. Da er es nicht tat, hielt ich ihn auf die einzige Weise fest, die mir zur Verfügung stand: Ich zeichnete sein Profil. Mit raschen Strichen hielt ich fest, wie er in die Welt hinaussah. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, kam er mir nicht scheu und verloren vor, sondern in seinem Element. Der Wind zerrte an meinem Haar, aber ihn schien er nicht einmal zu berühren.
    „Was ist da draußen?“, flüsterte er. „Alles? Alles, was es gibt, alles, was möglich ist? Aber ich bin hier. Ich will nicht allein sein, verstehst du das?“
    „Ja“, sagte ich. Wie gut ich ihn verstand. Was zählte es, wenn man tausend Möglichkeiten hatte, sein Leben zu leben, und dabei einsam war? Nicht dort draußen war alles, was wichtig war, sondern hier. Wo wir beide waren und niemand sonst.
    Irgendwo in den Tiefen einer Welt, die mich nichts mehr anging, bellte ein Hund. Jemand rief etwas. Tatjana? Ich hatte fast vergessen, dass es sie überhaupt gab. Liebte ich Rico in diesem Moment? Ich hätte dieses Gefühl nicht beschreiben können, aber für mich ging es über Verliebtsein hinaus. In diesem Augenblick berührten sich Himmel und Erde, der Sommerhimmel und dieses Dach, die singenden Vögel und unser Schweigen. Es war eine Abendstunde wie auf einer Postkarte. Die Sonne strich zärtlich über die Baumwipfel und tränkte die Welt in roter Glut. Ich hätte ein kitschiges Bild malen können, doch stattdessen zeichnete ich Ricos Umrisse und legte einen Schatten über ihn. Ich malte ihn dunkler als je zuvor - einen rätselhaften Jungen mit schwarzen Augen. Dann rückte ich ein bisschen näher, und ich wünschte mir so intensiv, dass es schmerzte, er würde den Arm um mich legen und mich küssen. War dies nicht seine Welt? War ich nicht endlich angekommen, in seinem eigenen Garten? Ein Kuss von ihm, von dem richtigen Rico, hätte diesen Abend in etwas absolut Einmaliges verwandelt.
    „Alicia“, flüsterte er, dann stand er auf und hielt das Gesicht in die Sonne.
    „Jetzt“, sagte er. „Jetzt, Alicia.“ Er öffnete die Arme, und ich machte einen Schritt nach vorne. Etwas Kühles streifte mein Gesicht.
    Dann brach das Dach unter mir ein.

    Ich spürte, wie ich wegsackte, wie Holz unter mir knirschte und splitterte. Nur das rettete mir das Leben, dieses eine warnende Geräusch. Meine Hände schnellten vor, klammerten sich an einen Querbalken, während um mich her Dachpfannen und Bretter in die Tiefe stürzten. Der Skizzenblock flatterte davon wie eine Taube. Meine Beine strampelten über dem Nichts. Vielleicht war unter mir der Heuboden, vielleicht gähnten auch endlose Meter bis nach ganz unten. Ich wusste es nicht. Ich sah nur Rico vor mir knien, sah die Dunkelheit in seinen Augen.
    Nicht einmal schreien konnte ich. Meine ganze Kraft benötigte ich dafür, mich festzuhalten, während mich mein eigenes Gewicht hinunterzog.
    „Oh Gott, Alicia!“ Rico streckte die Hand aus. Sein Gesicht war verzerrt vor Angst und Liebe. „Gib mir deine Hand.“
    Ich umklammerte den Balken und war nicht dazu fähig, mich zu rühren. „Ich kann nicht“, wimmerte ich. Wie sollte ich loslassen, wenn dieser Balken doch mein ganzes Leben bedeutete?
    „Ich zieh dich hoch. Du musst mir deine Hand geben.“
    Ein paar schreckliche Sekunden lang würde ich mich mit einer Hand halten müssen. Das konnte ich nicht. Ich wusste, dass ich es nicht konnte.
    „Vertrau mir. Gib mir deine Hand.“
    Meine Kräfte ließen nach, ich musste mich beeilen. Da setzte ich alles auf eine Karte und streckte meine Hand nach seiner aus, im Vertrauen darauf, dass er mich halten würde.
    Aber er hielt mich nicht.
    Ich griff ins Leere.
    Und stürzte ab.

    In dieser einen Sekunde, in der ich

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