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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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durchströmte.
    „Rico?“
    Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah. Er saß auf der Erde, zwischen den Wurzeln eines Baumes, den Kopf auf den Knien, die Arme um die Beine geschlungen, und weinte.
    Ich setzte mich neben ihn. „Rico“, flüsterte ich.
    Er hob den Kopf. Selbst in der Düsternis sah ich, wie dunkel seine Augen waren. Das Gesicht so bleich. In seinem Haar raschelten die rindengrauen Motten.
    „Du suchst nach mir, Alicia?“, fragte er, und ich hörte den Schmerz in seiner Stimme. „Warum? Hasst du mich nicht? Ich habe versucht, dich umzubringen.“
    „Du bist ein Geist“, sagte ich.
    Darüber lachte er bloß, ein bitteres Lachen, für das er eigentlich viel zu jung war.
    „Du warst nicht auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras“, sagte ich. „Auf keinem einzigen Bild.“
    „Ich weiß, wo die Kameras hängen“, sagte er. „Ich passe auf.“
    „Das Dach hat dein Gewicht getragen“, fuhr ich fort. „Meins nicht. Dabei bist du größer und schwerer als ich. Es sei denn …“
    „Zufall. Ich kenne die Stellen, die sicher sind.“
    „Ich wollte nach deiner Hand greifen. Und hab ins Leere gefasst.“
    „Weil ich wollte, dass du abstürzt.“ Seine Stimme klang rau. So war es gewesen. Ich hatte es selbst erlebt, ich wusste, dass er mich töten wollte. Nie, niemals hätte ich gedacht, dass man so etwas verzeihen konnte.
    Aber in diesem Augenblick wusste ich auch, dass er log. Während ich um mein Leben gekämpft hatte, hatte ich sein Gesicht gesehen - die Hoffnung und das Erschrecken und seine Tränen. Das Entsetzen über das, was er im Begriff war zu tun. Er hatte sich auf meine Ankunft gefreut und doch geweint, um mich, über das, was er mir antat.
    „Nein“, sagte ich. „Du hättest mich gehalten. In dem Moment wolltest du mich festhalten, aber du konntest nicht. Dasselbe ist vorher schon passiert, als ich vom Baumstamm gefallen bin. Du bist aufgesprungen und dann … nichts.“
    „Ich war nicht schnell genug.“
    „Doch“, widersprach ich. „Warst du. Aber du konntest mich nicht berühren.“
    Er schwieg.
    „Eins verstehe ich allerdings nicht. Wie konntest du die Seiten von meinem Skizzenblock umblättern? Das ist das Einzige, was gegen meine Theorie spricht.“ Ich wünschte mir so sehr, ich hätte uns beiden das hier ersparen können. „Wenn ich es mir recht überlege, habe ich dich kein einziges Mal angefasst. Soll ich ehrlich sein? Die Falter sind daran schuld, sonst hätte ich es schon längst versucht. Mir war oft danach, deine Hand zu nehmen.“
    „Mir auch“, gab er leise zu.
    „Aus diesem Grund kannst du mich nicht küssen. Das hast du gemeint, als du sagtest, wenn wir in deinem Garten sind, wären wir erst richtig zusammen.“
    Er schwieg und wandte sich ab.
    „Wolltest du deshalb, dass ich sterbe? Damit ich bin wie du?“
    Rico antwortete nicht.
    „Ich weiß jetzt, warum du mir nie etwas von deinem Leben erzählt hast, von deiner Schule oder deiner Familie. Weil du natürlich nicht zur Schule gehst und weil du keine Freunde oder Angehörige hast. Du hast mir immer die Wahrheit gesagt. Du wohnst hier. Du bist hier. Mehr … mehr gibt es für dich einfach nicht.“
    Er wandte das Gesicht ab.
    Der Satz, den Luca gesagt hatte, ließ mich nicht los. „Ich möchte nicht sterben, solange ich nicht gelebt habe. Aber so war es bei dir, Rico, oder? Du bist gestorben, bevor du richtig gelebt hast. Du bist ein Geist.“
    Das Wort schien in der Luft zu hängen.
    Dann lachte er leise. „Hörst du dir jemals selbst zu, Alicia? Es gibt nicht … ich bin nicht …“
    Die Motten krochen über seinen Ärmel. Es war zu dunkel, um sie zu sehen, aber ich spürte, dass sie da waren. Trotzdem streckte ich die Hand aus. Eine Wolke von Nachtfaltern stob auf und flatterte um ihn herum, und ich griff ins Leere. Obwohl ich gewusst hatte, dass ich nichts fühlen würde, schluchzte ich auf.
    „Warum kann ich dich sehen?“, fragte ich. „Warum kann ich das, wenn es doch sonst niemand kann?“
    „Ich weiß nicht“, sagte er leise. „Ich weiß nur eins: In dem Moment, als du mich angesehen hast, habe ich aufgehört, einsam zu sein.“
    Er lehnte den Kopf gegen meine Schulter und legte den Arm um mich. Ich konnte nichts fühlen - nicht von außen. Alle meine Gefühle waren innen, in meinem Herzen.
    „Ich kann Seiten umblättern, weil sie so leicht sind“, flüsterte er. „Und wenn ich mich sehr anstrenge. Aber sonst kann ich nichts bewegen.“
    Das stimmte nicht. Er hatte mein Herz

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