Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
berührt und meine Welt auf den Kopf gestellt.
Vielleicht hätte ich die ganze Nacht so gesessen, mit Rico an meiner Seite, aber Winky fand mich und stürzte laut bellend auf mich zu. Normalerweise wäre sie mir in den Arm gesprungen, aber heute zögerte sie und duckte sich. Hinter ihr kam Tatjana.
„Liss? Liss, bist du da? Was machst du denn bloß, hier im Dunkeln? Igitt, mir ist da was ins Gesicht geflattert.“
„Keine Panik“, sagte ich. „Ich versuche nur, innerlich zur Ruhe zu kommen.“
„Im Wald?“
„Das ist ein Garten“, verbesserte ich, „kein Wald.“
Winky knurrte mich an. Nein, nicht mich. Ihn.
„Der Hund ahnt etwas“, sagte Rico leise. „Dass etwas nicht stimmt. Tiere sind sehr sensibel, was das angeht, weißt du. Die Nachtfalter lieben mich. Keine Ahnung, warum. Sie liebten mich von Anfang an. Nur Menschen sind blind und taub.“
Tatjana beobachtete mich misstrauisch, deshalb konnte ich ihm nicht erzählen, was ich vermutete: dass das Geistersehen bei mir in der Familie lag. Meinen Onkel hatte diese Fähigkeit wohl übersprungen, sonst hätte er längst Ricos Bekanntschaft gemacht. Vielleicht wurde die Gabe auf der weiblichen Linie vererbt.
„Kommst du jetzt, oder soll ich deinen Onkel rufen?“
„Ist ja gut.“
Als ich aufstand und ihr zum Haus folgte, blieb Rico zwischen den Bäumen stehen und blickte uns nach.
So nah
Dr. Weihrauch, der Arzt, zu dem Onkel Vincent mich schickte, war so nett, dass es mir aufrichtig leid tat, ihn zu belügen. Er war jünger, als ich erwartet hatte, trug nicht mal einen Bart und unterhielt mich mit kleinen Geschichten. Trotzdem konnte ich ihm natürlich nicht verraten, dass ich einen Geist kennengelernt hatte.
„Ich will Schauspielerin werden“, erzählte ich stattdessen. „Deshalb renne ich manchmal rum und rede mit Leuten, die ich mir bloß vorstelle. Ich steigere mich da so hinein, dass ich fast vergesse, dass es sie gar nicht gibt.“
Er fragte gar nicht nach, warum ich aufs Dach gestiegen war. Stattdessen wollte er alles Mögliche über meine Eltern wissen.
„Glauben Sie, ich habe mich in Gefahr gebracht, gerade weil meine Eltern sich immer solche Sorgen um mich machen? Das ist doch verrückt.“
„Nicht unbedingt“, sagte Dr. Weihrauch. „Es klingt sogar recht logisch.“
Er war zufrieden und ich auch. Diese Lösung klang so viel besser als die Tatsache, dass mich ein Geist in eine Ruine gelockt hatte, damit ich ihm im Tod Gesellschaft leistete. Bestimmt hätte es den guten Doktor sehr interessiert, dass ich diesem Geist den Namen Rico gegeben hatte.
Zu dumm, dass ich mit niemandem darüber reden konnte, am Ende hätte man mich noch eingesperrt. Dafür wurde ich behandelt, als sei ich aus Glas. Ich musste nicht mehr im Laden arbeiten. Tatjana war die ganze Zeit lieb zu mir und plapperte in einem fort von irgendwelchen Dingen, die mich vielleicht früher interessiert hätten, für die ich aber im Moment keinen Nerv hatte.
Zum Glück hatte Onkel Vincent so viel zu tun, dass er nicht auch noch die Krankenschwester spielen konnte. Er musste in einer dringenden Angelegenheit fort, Sabine begleitete ihn, und wir hatten das Haus für uns. Das traf sich gut, denn es gab da etwas, das ich noch unbedingt klären musste.
„Was suchst du eigentlich?“, fragte Tatjana, während ich durch die Gänge marschierte und sämtliche Türen öffnete.
„Ein Foto.“
„Was für ein Foto?“, kam die unvermeidliche Frage.
„Von den Meyrinks.“
„Das finden wir doch bestimmt im Internet. Wenn die Kinder gesucht wurden, gab es garantiert Fotos von ihnen in der Presse. Und von den Eltern bestimmt auch.“ Tatjana musterte mich misstrauisch. „Wofür brauchst du das denn?“
„Mein Psychiater sagt, es sei wichtig, die alten Dinge aufzuarbeiten“, erklärte ich. „Damit ich mein Schicksal von dem der Kinder trennen kann. Oder so.“
„Aha“, sagte sie. „Das sagt also der gutaussehende Herr Doktor.“
„Wenn du erst Model bist, hast du bestimmt auch einen Psychiater. Also kein Grund, neidisch zu sein.“
Um von meinen Gefühlen für Rico abzulenken, hatte ich ausgiebig von Dr. Weihrauch geschwärmt.
„Weißt du was, Liss? Du entspannst dich in der Sonne und ich suche nach den Fotos“, schlug Tatjana vor. „Kriegst du es wohl hin, nicht auf Bäume, Dächer oder sonst was zu klettern?“
„Ich gebe mir Mühe.“
Ich schnappte mir Winky und ging mit ihr nach draußen. Es war heute sonnig, aber nicht heiß, nur so um die
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