Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
er so komisch angezogen. Es war keine Schuluniform, sondern ein Anzug für ein kleines Kind.
„Du weißt es“, sagte ich leise. „Du wusstest es die ganze Zeit. Du willst es nur nicht wahrhaben, weil es so wehtut.“
So weh, als würde einem bei lebendigem Leib und ohne Betäubung das Herz herausgeschnitten.
„Enrico. Ich bin Enrico“, brachte er schließlich heraus.
„Müsstest du nicht …“ Oh Gott, wie fragte man so etwas? „Du warst doch ein Kind. Warum … ich meine, wie …? Sogar deine Kleidung ist mitgewachsen.“ Sonst hätte ich vielleicht geglaubt, dass er erst viel später gestorben war. Aber das Jackett mit den goldenen Knöpfen erzählte eine andere Geschichte.
„Ich wollte immer groß werden“, flüsterte er. „So wie Papa. Ich wollte groß werden, verstehst du?“
Meine Hände zitterten, als ich das Foto hervorholte, das Paul Meyrink neben meinem Onkel zeigte, dem Mann, der jetzt in diesem Schloss wohnte, dem die ganze Firma gehörte statt nur die halbe.
„Vincent Riebeck. Hat er euch entführt?“
Hinter mir ertönte ein entsetztes Quieken.
Tatjana hatte die Augen weit aufgerissen. Winky drückte sich an ihr Bein und zitterte. „Ähm, ich … ich wollte nicht stören …“
„Was machst du denn hier?“, stöhnte ich auf.
Rico wich zurück. Instinktiv streckte ich die Hand aus, um ihn festzuhalten, und griff natürlich ins Leere.
„Was tust du hier, Tatjana?“, wiederholte ich wütend. „Willst du überprüfen, wie bekloppt ich wirklich bin?“
„Ist er … ist er da?“
Jetzt war es an mir, fassungslos zu sein. „Du glaubst doch nicht daran“, erinnerte ich sie. „An Geister. Deswegen muss ich zum Psychiater. Ich rede hier bloß mit mir selbst.“
„Das solltest du nicht tun“, sagte sie. „Er ist gefährlich.“ Sie war blass, und es fehlte nicht viel und ihr hätten die Zähne geklappert.
„Siehst du ihn auch?“, entfuhr es mir.
„Nein, aber … irgendetwas ist da. Winky weiß es. Das war schon gestern so, im Wald. Etwas hat sie völlig verstört, etwas, was ich nicht sehen konnte.“ Sie starrte auf die Stelle, an der sie ihn vermutete, leider ziemlich weit daneben.
Rico war stehengeblieben und musterte Tatjana prüfend. Ich wusste, dass er mit mir allein sein wollte.
„Der Kerl hätte dich fast umgebracht!“, rief sie. „Hast du das vergessen?“
„Du glaubst mir also?“
„Ja. Nein! Nein, ich glaube es nicht wirklich. Aber es erklärt so einiges. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was ich glauben soll.“
„Sie mag mich nicht“, sagte Rico und ein wilder Ausdruck trat in seine Augen, traurig und aufgewühlt und wütend, alles auf einmal. Er konnte nicht einmal mit Tatjana sprechen, sie davon überzeugen, dass er nicht so schlimm war, wie sie dachte. Seit sechzehn Jahren wanderte er durch diesen Garten und war allein mit seiner schrecklichen Vergangenheit.
Das, was ich am meisten fürchte, hatte er gesagt, ist die Einsamkeit. Ob es wohl irgendjemanden auf dieser Welt gab, der einsamer war als er?
Die Motten begannen aufgeregt über sein Jackett zu krabbeln und schwirrten hektisch mit den Flügeln.
„Versteh doch, sie kennt dich nicht“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Wenn sie dich kennen würde, würde sie dich mögen. Wenn sie sehen würde, was ich sehe. Wenn sie deine Stimme hören könnte.“
„Komm lieber da weg“, flüsterte Tatjana. „Dieser Geist wünscht sich deinen Tod.“
Der Hund winselte und zitterte am ganzen Körper.
„Dein Onkel hat ihn umgebracht, und jetzt will Rico sich an ihm rächen, indem er dich tötet. Begreifst du denn gar nicht, was hier läuft, Liss? Nur aus einem Grund suchen die Geister den Ort ihres Todes heim: Rache.“ Ihre Stimme hatte sich in ein bedrohliches Flüstern verwandelt. „Dass der Geist des toten Jungen ausgerechnet in diesem Garten herumspukt, deutet darauf hin, dass die Kinder hier gestorben sind.“ Tatjana war wieder ganz in ihrem Element.
Ich wandte mich Rico zu. Seine dunklen Augen waren voller Mitleid. Er war derjenige, dem man Übles angetan hatte, und doch lag in seinem Blick sein ganzes Herz und ich wusste, er fürchtete sich davor, mir wehzutun.
„Onkel Vincent?“, fragte ich. „Wirklich?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er leise.
„Du … weißt es nicht?“
„Ich habe geschlafen, daran erinnere ich mich noch.“ Er biss sich auf die Lippen. Konnte ich mir überhaupt vorstellen, wie schwer es sein musste, diese Geschichte zu erzählen? „Als ich
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