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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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aufgewacht bin, war ich nicht mehr in meinem Bett. Es war dunkel. So dunkel, dass überall nur Schatten waren. Ich …“
    „Wir könnten ihm die Fotos aller Verdächtigen vorlegen.“ Tatjana fiel ihm ins Wort, ohne es zu merken. „Und er sagt uns, wer es war. Dann könnte die Polizei den Fall endlich abschließen.“
    „Kannst du mal kurz still sein?“, fuhr ich sie an.
    Rico war aufgestanden und ans Ufer getreten. Wasser schwappte über seine Füße.
    „Mein Bruder war da“, sagte er. „Wir haben zusammen gewartet. Nach unseren Eltern gerufen. Niemand hat uns gehört, niemand ist gekommen. Wir hatten Hunger, aber keiner hat gehört, dass wir geweint haben.“
    Auf einmal wollte ich gar nicht mehr erfahren. Ich konnte es nicht ertragen. Diese beiden kleinen Jungen auf dem Foto … nein, ich wollte es nicht wissen, ich wollte nicht vor Augen haben, wie sie sich gefürchtet hatten.
    „Rico, ich … du musst nicht …“
    „Es wäre schon hilfreich, wenn wir wüssten, was damals passiert ist“, redete Tatjana dazwischen. „Wie genau es abgelaufen ist. Frag ihn, wo der Entführer die Kinder hingebracht hat. Und wie er umgebracht wurde.“
    Rico wurde noch blasser. Er wich zurück, vor Tatjana und damit auch vor mir.
    „Hör auf! Hör doch endlich auf! Du verletzt ihn, merkst du das nicht?“
    „Verletzen? Er ist doch schon tot.“ Jedes ihrer Worte war wie ein Dolchstoß. „Und er ist hier, weil er nach Gerechtigkeit verlangt. Ich will bloß helfen.“
    Ich hatte mich ihr nur kurz zugewandt, und als ich mich wieder umdrehte, sah ich Rico zwischen den Bäumen davonrennen. Wütend ließ ich Tatjana stehen und eilte ihm nach.
    „Liss!“, rief sie mir nach. „Nicht! Bleib hier! Er ist unberechenbar! Verdammt, er ist ein Geist!“
    Aber ich konnte Rico jetzt nicht allein lassen. Daher folgte ich ihm zu den verfallenen Gebäuden, dorthin, wo ich fast den Tod gefunden hätte. Als ich ankam, war es schon beinahe dunkel. Alles war still, nur der Wind rauschte in den Bäumen, und die Rosen verschmolzen mit der Nacht. Ich stand auf dem Platz zwischen dem Kutscherhaus und den Schuppen und horchte. Nichts. Als wenn dieser Junge je ein Geräusch gemacht hätte. Ein Geist bewegt sich lautlos.
    „Rico?“, flüsterte ich.
    War da vorne etwas Dunkles, das vorbeihuschte? Ich trat näher ans Gewächshaus heran und spähte durch die Scheibe. Als die große, dunkle Gestalt mit dem schwarzen Haar und Angelinas Augen plötzlich vor mir erschien, hätte ich fast aufgeschrien, doch um ihn nicht zu verschrecken, riss ich mich zusammen. Er war scheu. Verletzlich und einsam.
    Und zugleich, rief ich mir in Erinnerung, war er stark. Enrico war ein Kind gewesen, klein und hilflos, und jemand hatte ihm Schreckliches angetan, aber hier war er noch immer und hielt an dieser Welt fest. Mitleid hätte ihn nur beleidigt, und was ich fühlte, ging sowieso weit darüber hinaus. Noch nie hatte ich mich zu irgendjemandem so hingezogen gefühlt. Ich sehnte mich nach ihm, so sehr, dass es kaum zu ertragen war.
    Er lehnte die Stirn gegen die Scheibe, und ich wünschte mir, dass er sein Lächeln wiederfand.
    „Du bist nicht mehr allein“, sagte ich leise. Vielleicht hörte er mich, vielleicht auch nicht. Darauf kam es nicht an. „Ich bin da. Ich sehe dich und ich höre dich.“
    Seine Hand und meine Hand, nur die Glasscheibe dazwischen. Und trotzdem waren wir einander nie so nah gewesen.

Das Lachen eines Verlorenen

    „Habt ihr über Luca gesprochen?“ Tatjana war quirlig und aufgedreht, als wäre dies alles nicht echt, sondern bloß ein fabelhaftes Abenteuer. „Was ist mit dem zweiten Jungen passiert?“
    „Ich habe ihn nicht gefragt, und jetzt lass mich in Ruhe. Ich muss nachdenken.“
    Meine beste Freundin hatte es sich auf meinem Bett bequem gemacht, als wäre es ihr Zimmer. Winky schnarchte leise auf ihrem Schoß. In der Vase auf dem Tisch steckten heute langstielige blutrote Rosen.
    „Du hättest ihm nicht nachlaufen dürfen. Hast du es immer noch nicht begriffen? Er will Gerechtigkeit. Und Rache. Du bist in Gefahr, Liss! Dein Onkel hat ihn auf dem Gewissen, und dafür will Rico dich umbringen. Damit das Gleichgewicht wiederhergestellt wird.“
    „Onkel Vincent hat ihn nicht umgebracht!“
    Sie zupfte nachdenklich an Winkys kurzem Fell. „Wer weiß. Vielleicht doch. Wir könnten …“ Ihre Augen leuchteten auf. „Wir suchen die Leiche!“
    „Was?“, fragte ich. „Das ist echt nicht witzig, Tatjana.“
    „Habe ich gesagt,

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