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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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„Oh Gott, Rico, warum hast du mich nicht schon früher hergeführt? Dann wüsste ich, was hier rumsteht und was ich gebrauchen könnte. Sind das Sachen für den Garten und den Rasenmäher? Vielleicht wären wir darauf gekommen, dass einer der Gärtner etwas mit dem Verbrechen zu tun haben muss.“
    „Es tut mir leid“, murmelte er. „Der Boden ist aus Lehm, aber so hart, dass du dich unmöglich herausgraben kannst. Die Tür kannst du vergessen. Die Wände? Keine Ahnung. Meinen kleinen Fäusten haben sie damals mühelos standgehalten.“
    Meine Finger schlossen sich um eine der Stützen des Regals. Eine Metallstange. „Kann ich die irgendwie abmachen?“
    „Ich glaube nicht, aber an der Rückseite sind zwei gekreuzte Stangen, die der Stabilität dienen. Die müssten leichter zu entfernen sein.“ Er dirigierte mich Schritt für Schritt durch die absolute Finsternis. „Da, diese Stange, genau die. Mit einem heftigen Ruck müsstest du die herausziehen können … ja, so.“
    Ich stolperte rückwärts. Klebrige Fäden legten sich auf mein Gesicht.
    „Pass doch auf, wo du hintrittst!“, zischte er.
    „Ist da … ich meine, bist du …?“
    „Ja!“, schnaubte er. „Und nun schlägst du damit gegen die Wand. Du nimmst dir die Stelle vor, an der die Kette befestigt ist. Wenn die Verankerung sich löst, kannst du die Tür ganz mühelos öffnen.“
    „Steh ich so richtig?“ Versuchsweise schwang ich die Stange vor und zurück.
    „Etwas weiter nach links … Das ist die richtige Stelle.“
    Beim ersten Schlag flog mir mein neues Werkzeug fast aus der Hand. Ich hatte nicht erwartet, dass es so wehtun würde. In meinem Kopf, der sich einigermaßen beruhigt hatte, brach ein Gewitter los.
    „Ist irgendwas passiert?“, fragte ich, nachdem ich wieder einigermaßen alle fünf Sinne beisammen hatte.
    „Ein bisschen Putz ist abgebröckelt“, berichtete Rico.
    „Das reicht nicht.“ Mit aller Kraft schlug ich ein weiteres Mal zu. Die Stange entglitt meinen Händen und schepperte über den Boden. „Es geht nicht!“, schrie ich. „Das kann doch nicht wahr sein! Und das Einzige, was du tust, ist dumm rumzustehen und blöde Ratschläge zu geben!“
    „Pass auf, dass du nicht auf meine Knochen steigst“, knurrte Rico.
    Diese Bemerkung war wie eine kalte Dusche.
    „Tut mir leid, Rico Oh bitte, ich meinte das nicht so.“
    Er war nur ein totes Kind, das in einer Ecke lag, über dessen winzigen Schuh ich gestolpert war. Dass er mir nicht helfen konnte, war gewiss nicht seine Schuld.
    Erschöpft setzte ich mich auf den Boden und wartete darauf, dass meine Kopfschmerzen nachließen. Die Finsternis umgab mich wie eine Schicht Spinnweben, sie haftete an mir, klebrig und aufdringlich. Sie schien durch meine Haut zu wandern, mit ihrer Schwester, der Kälte.
    „Bist du da?“, fragte ich mit klappernden Zähnen.
    „Ich bin da“, antwortete Rico. „Ich sitze neben dir. Ich habe den Arm um dich gelegt. Und jetzt - fühlst du es? - das war beinahe ein Kuss. Ein ganz kleiner. Deine Tränen schmecken salzig.“
    „Wusstest du, dass es Nachtfalter gibt, die Tränen trinken?“
    „Nein“, sagte er leise. „Wusste ich nicht.“
    Die ganze Nacht hindurch spendete seine Gegenwart mir Trost. Irgendwann nickte ich ein, aber schon kurze Zeit später erwachte ich mit schmerzendem Rücken und brummendem Schädel. Fahles, dunkelgraues Licht tastete sich mit scheuen Fühlern durch die kleine Zelle. Es war ein trostloser Keller, von Spinnweben verhangen. Vor mir lag der kleine Schuh. Schwarz und blau, ein Kinderschuh. Hinter dem Vorhang aus Netzen und Staub, wie in einer kleinen Höhle geborgen, lag ein zusammengekrümmtes Bündel. Ein abgerissener goldener Knopf, von einer dicken Staubschicht bedeckt. Die dunkelblaue Jacke. Die Knochen und der kleine Schädel waren erschreckend weiß. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Dass er zusammengeschrumpft sein würde wie eine Mumie, nach diesen sechzehn Jahren?
    Ich fragte nicht, ob die Ratten dagewesen waren. Kleine silbergraue Motten wohnten in den leeren Augenhöhlen. „Siehst du das?“, fragte er leise.
    „Ja“, sagte ich.
    „Du hast deine Brille verloren.“
    „Ich bin bloß ein bisschen kurzsichtig. Ich … ich sehe es.“
    Ich wandte den Blick ab und richtete ihn auf die Tür. Sie war massiv; um sie aufzubrechen, hätte ich eine Axt gebraucht sowie die Kraft, um diese Axt zu schwingen. Die Wände waren gemauert und mit einer dünnen Schicht Putz bedeckt, die ich mit der

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