Das Auge des Sehers (German Edition)
ein fadenscheiniger Heiliger, der die Leute für blöd verkauft.»
«Du bist unverbesserlich.»
«Nein, du bist unverbesserlich. Es gibt keine Hellseherei und damit basta. Alles nur Aberglaube.»
«Der Glaube gehört zum Leben wie vieles andere auch.»
«Du willst jetzt aber nicht hier am Morgartenring mit mir eine Diskussion über Religion anfangen, oder?»
«Das nicht. Ich will damit nur sagen, dass wir von morgens früh bis abends spät mit übersinnlichen Ereignissen konfrontiert werden, die wir selbst heraufbeschwören.»
«Wer zum Beispiel?»
«Du und ich, einfach alle.»
«Blödsinn!»
«Nehmen wir Spitzensportler, die haben alle ein besonderes Ritual. Rafael Nadal etwa führt, bevor er einen Ball spielt, immer die gleichen Bewegungen aus. Wieso? Weil er überzeugt ist, nur dann den perfekten Aufschlag ausführen zu können, wenn er sich an dieses Ritual hält. Dann ich. Ich stehe bewusst am Morgen immer mit dem rechten Bein auf. Das bringt mir Glück.»
«So ein Quatsch, reiner Aberglaube!»
«Bei dir gibt es auch bestimmte Rituale, Kleinigkeiten, an die du dich klammerst.»
«Wie wäre es mit einem konkreten Beispiel?»
«Nichts leichter als das. Bei uns im Kommissariat wurden die Teppichböden im letzten Jahr durch Steinplatten ersetzt.»
«Weil die Teppiche uralt und Bakterienschleudern waren. Na und?»
«Seither läufst du anders über den Flur.»
«Blödsinn!»
«Du achtest haargenau darauf, dass du mit den Füssen immer auf eine Platte trittst und ja nie auf eine Fuge. Stimmts?»
«Ich … ich … ja.»
«Aus welchem Grund?»
«Weil … weil, ich weiss es nicht. Aber sicher nicht, weil ich denke, dass es mir Unglück bringt, wenn ich auf eine Fuge trete.»
«Zweites Beispiel. Was machst du, bevor du anfährst?»
«Keine Ahnung, du wirst es mir bestimmt gleich sagen.»
«Nur nicht so hässig! Du klappst die Sonnenblende hinunter und schaust in den Spiegel. Nämlich so.» Ferrari drückte die Sonnenblende hinunter. «Das ist ja gar kein Spiegel», stellte er erstaunt fest.
«Das ist das Bild meiner Mutter.»
Ferrari zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Faustschlag verpasst. Das war jetzt gar nicht die feine Art, absolut nicht, auch wenn ich es nicht wissen konnte. Mist, elender. Davon abgesehen, bestätigt dieses Foto meine Rede. Nadine betrachtet das Bild ihrer toten Mutter, weil sie glaubt, dass ihre Mutter sie vom Himmel aus beschützt. Wenn das kein Ritual mit übersinnlichem Inhalt ist. Ferrari klappte die Sonnenblende zurück. In diesem Augenblick leitete die Polizei den Verkehr auf die andere Strassenseite um.
«Es geht weiter,» nuschelte der Kommissär verlegen.
«Das sehe ich selbst.»
Isabelle Gutmann passte nicht ins Bild, das sich Ferrari von ihr gemacht hatte. Eine junge, energische Frau Mitte dreissig, Managertyp, die keinerlei Ähnlichkeit mit Alura Randa hatte.
«Sorry für die Verspätung, am Morgartenring war ein Unfall.»
«Ich hörte es im Radio. Normalerweise gar kein Problem, doch heute habe ich um eins den nächsten Termin. Ein neuer Auftrag. Ich hoffe, dass wir nicht länger als eine Stunde brauchen. Sonst wirds für mich eng, Frau Kupfer.»
«Dann legen wir am besten sofort los. Sie produzieren die Sendung von Arian Nostramo?»
«Von Anfang an. Schrecklich, was mit Arian passiert ist. Haben Sie einen Verdacht?»
«Noch sammeln wir Fakten.»
«Das heisst, Sie tappen im Dunkeln.»
«Sie bringen es auf den Punkt. Aber vielleicht kommen von Ihnen neue Impulse, die uns auf eine heisse Spur führen. Wie sind Sie zu dem Auftrag gekommen?»
«Arian hat mich angefragt. Ich kenne … kannte ihn schon lange. Wir produzierten vor Jahren einen Trickfilm zusammen. Der Hase Lumpi. Nicht gerade erfolgreich.»
«Ein Trickfilm für Kinder?»
«Eigentlich für Gross und Klein. Ein kleiner, frecher Hase, der den anderen Tieren immer auf den Nerv geht. Arian schrieb den Plot und ich zeichnete dazu. Wir glaubten, dass wir mit diesem Trickfilm den Durchbruch schaffen würden, aber es war ein totaler Flop. Danach verloren wir uns für einige Jahre aus den Augen. Ich ging zum Schweizer Fernsehen, war zuerst Regieassistentin, später konnte ich einige Kurzfilme, vor allem Dokumentarfilme, produzieren und für ‹10vor10› einige Reportagen. Eines schönen Tages rief Arian an und fragte, ob ich seine Sendung produzieren wolle. Ich verabschiedete mich vom öffentlich-rechtlichen TV, gründete eine kleine Firma und bin jetzt meiner eigener Chef.»
«Gingen Sie
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