Das Auge von Tibet
übertrieben feierlich. »Und wir geben den Leuten stets, was sie wollen.« Die Männer an der Bar klopften dem großen Mann auf die Schultern und prusteten vor Lachen, als er ihnen spöttisch zwei abgenutzte Elfenbeinwürfel entgegenstreckte.
Zuletzt fiel sein Blick auf Shan. »Wer ist denn dieses jämmerlich kleine Geschöpf, liebste Jakli?« fragte er, und sein Lächeln wirkte nicht mehr fröhlich.
»Er ist uns zu Hilfe gekommen. Wegen der Morde.«
»Mein Gott, Kind!« brummte Marco mit tiefer Stimme. »Du hast doch nicht etwa.»
»Er gehört nicht zu den Behörden«, unterbrach Jakli ihn hastig. »Er kommt aus Tibet.«
Marco musterte Shan mit kaltem Blick. »Eine rauhe Gegend, dieses Tibet«, sagte er dann.
Shan nickte. »Vor allem für die Tibeter.«
Marco lächelte zynisch und nickte zustimmend. »Wo in Tibet?«
»Hauptsächlich bei der 404. Baubrigade des Volkes. In »Lao gai.« Marco stieß die Worte wie einen Fluch hervor. Er trank sein Glas aus, trat an Shans Seite, packte dessen Unterarm mit seiner riesigen Hand, schob den Ärmel hoch und begutachtete die Tätowierung.
Er drückte darauf und dehnte die Haut. Dann nickte er billigend, als kenne er sich mit diesem Thema besonders gut aus. »Und davor?«
»Peking.«
Jedermann in Hörweite verstummte schlagartig.
Der kräftige Fremde goß sich einen weiteren Wodka ein, ließ das Glas jedoch auf der Bar stehen und nahm Shan genauer in Augenschein. »Eine Seidenrobe!« rief er mit geheuchelter Herzlichkeit und spielte dabei auf die Mandarine an, die hohen Staatsbeamten der chinesischen Kaiserreiche. Sein Blick blieb weiterhin alles andere als herzlich. Er zog die Augenbrauen hoch. »Oder gar ein Palast-Eunuch?« Die Männer brüllten vor Lachen.
»Ich heiße Shan Tao Yun«, sagte Shan leise.
Marco erhob sein Glas. »Willkommen im Nationalitätenpalast von Karatschuk, Genosse Shan«, sagte er in Anspielung auf die gewaltigen Hallen, die in den Provinzhauptstädten zum Ruhme der mannigfaltigen Kulturen des Landes errichtet wurden. An den Tischen kam leises Gekicher auf.
»Sie. Sie sind ebenfalls ein Besucher, wie ich sehe«, sagte Shan unbeholfen. Das westliche Erscheinungsbild des Mannes verwirrte ihn noch immer.
Einige der Männer lachten abermals.
»Beim Geist des Großen Vorsitzenden, wollen Sie mich beleidigen?« dröhnte Marco. »Ich bin der beste verdammte Sozialist des ganzen Landes! Falls man mir je einen Paß ausstellen würde, was allerdings nie geschehen wird, dann wäre er rot. Mit einem großen und vier kleinen gelben Sternen«, sagte er in Anspielung auf die chinesische Nationalflagge. »Einen linientreueren Bürger als mich werden Sie in Xinjiang nicht finden.«
»Das hat nicht viel zu besagen«, entgegnete Shan. Er spielte ein gefährliches Spiel, vor allem, weil er die Verbindung zwischen Marco und Jakli nicht einschätzen konnte und daher nicht wußte, was Jaklis Schutz letztlich wert war.
Marco grinste wieder. »Eine Seidenrobe mit Sinn für Humor.« Er beugte sich zu dem Mann hinter der Bar herüber. »Anscheinend stimmt es, was man sich so erzählt, Osman«, sagte er in sachlichem Ton, zwinkerte dabei aber verschmitzt. »Das Paradies der Arbeiterklasse wird jeden Tag prächtiger.« Er verlagerte auf dem Hocker sein Gewicht, so daß der Aufschlag seines dicken Wollmantels verrutschte und Shan freie Sicht auf zwei Gegenstände erhielt. Das eine war eine massive Silberkette, an der eine große Taschenuhr hing. Das andere war die größte Pistole, die Shan je gesehen hatte. Der Revolver schien noch aus dem neunzehnten Jahrhundert zu stammen.
»Ich habe den Rest Ihres Namens leider nicht mitbekommen«, sagte Shan zu Marco.
Der große Mann sah ihn durchdringend an. Er war es eindeutig nicht gewohnt, bedrängt zu werden. »Man hat mir schon viele Namen verpaßt. Aber ich wurde getauft, Genosse«, sagte er spöttisch. Es schien ihm zu gefallen, daß Shan ziemlich verwirrt war. »Jawohl, getauft. Von einem alten Priester, von dem sogar einst der Zar die Kommunion empfangen hatte. Meine Mutter hat sich für einen Namen entschieden, der die vielen seltsamen Länder widerspiegeln sollte, die ich ihrer Meinung nach zu Gesicht bekommen würde. Marco Polo Alexei Myagov, Angehöriger einer der ehrwürdigen Minderheiten unserer Heimat. Der loyalste weiße Chinese des ganzen Landes.«
Ein eluosi . Shan hätte fast vergessen, daß es sie gab. Die meisten der Russen, die vor mehr als achtzig Jahren nach Osten über den Pamir oder den Tian
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