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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hier verschwinden. Ich könnte dir helfen«, sagte Huf in neuem, vertraulichem Tonfall. »Ich heiße Huf. Ich bin ein guter Tadschike. Ich kenne die Wüste. Ich habe chinesische Freunde. Ich bringe dich in die Stadt. In einer Stadt wirst du in Sicherheit sein.«
    »Er ist auch hier in Sicherheit«, sagte Jakli und trat vor, so daß sie drohend über Huf aufragte, der immer noch auf dem Boden saß.
    »Na klar, natürlich, wenn du das sagst.« Huf hastete wie eine Krabbe auf allen vieren zurück, bis er nicht mehr in Jaklis Reichweite war, sprang dann auf und lief ins Gebäude.
    Shan sah ihm hinterher. »Er heißt Huf?« fragte er Jakli.
    Sie seufzte und schaute besorgt zur Tür. »Bei manchen der alten Nomadenstämme ist das so Brauch. Ein Baby wird nach dem ersten Ding benannt, das die Mutter am Morgen nach der Geburt zu Gesicht bekommt.« Sie winkte ihn zu sich heran, als wolle sie ihn von dem Gebäude weglotsen.
    Aber Shan folgte Huf ins Innere.
    Im ersten Moment kam es ihm so vor, als würde er eine Höhle betreten. Er gelangte in einen unbeleuchteten Korridor von etwa fünf Schritten Länge, zu dessen beiden Seiten sich dunkle Nischen zu befinden schienen. Während Shan den Gang durchquerte und dabei den Blick auf den Sandboden gerichtet hielt, versuchte er sich zu erklären, was dem Tadschiken soeben zugestoßen sein mochte. Der Korridor endete vor einer steinernen Wand. Einer Geisterwand. Die Errichtung dieses Gebäudes war unter der Anleitung eines Geomanten erfolgt, eines jener Schamanen, die in den traditionellen Königreichen Nordasiens beim Bau auch noch des einfachsten Stalls eine weitaus größere Rolle spielten als Architekten oder Zimmerleute. Durch Anwendung der Kunst des Feng Shui hatte der Geomant vor vielen Jahren angeordnet, daß direkt gegenüber dem Eingang eine Wand aufgestellt werden sollte, da böse Geister sich stets auf geraden Bahnen fortbewegten. Zudem zeigte die Eingangstür nach Süden, wie Shan in diesem Moment erkannte, weil die besagten Geister im Norden hausten.
    Es roch nach Lampenöl und Zimt. Shan hörte Gelächter. Eine laute Stimme erzählte gerade einen obszönen Witz auf mandarin.
    Vor der Wand bog er links ab und gelangte durch einen weiteren kurzen Gang zu einer kleinen gewölbten Türöffnung. Shan blieb unter dem Mauerbogen stehen und starrte durch dichten Tabakrauch in einen großen Raum, der offenbar als Gaststube fungierte. Die Kammer wurde durch ein Dutzend großer Kerzen und vier Kerosinlampen erhellt, von denen zwei über einem großen Tisch hingen. Anscheinend hatte man sie mit Telefonkabel an den hölzernen Deckenbalken befestigt. Der Tisch befand sich etwa drei Meter vom Eingang entfernt und stand auf einigen aufgeschichteten flachen Steinplatten, so daß er dem großen Mann namens Osman, der kurz an der Tür aufgetaucht war, bis zur Taille reichte. Osman lehnte auf der provisorischen Theke, auf der Shan außerdem einen Korb getrockneter Feigen, einen Stapel flacher nan-Brote und eine Ansammlung von Flaschen entdeckte, deren Inhalt überwiegend in den verschiedensten Brauntönen schillerte. Gefährlich nah an der Tischkante standen zahlreiche Trinkgläser, die zumeist Sprünge hatten und schmutzig waren.
    Hinter Osman lag ein großer zottiger grauer Hund und schlief.
    Im Raum verteilt saß ein Dutzend Männer an mehreren großen Holzkisten, die man umgedreht hatte und auf diese Weise als behelfsmäßige Tische nutzte. Am hintersten dieser Tische teilte der verwundete Huf sich mit einem anderen Mann eine Flasche, hielt sich dabei den Arm, warf Osman finstere Blicke zu und murmelte etwas, das seinen Begleiter lachen ließ. In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner, mit edlen Schnitzereien versehener Tisch, an dem niemand saß. Darauf stand ein reich verziertes Schachspiel und daneben ein großer, schmutziger und dick gepolsterter Sessel, der wie ein überdimensionales Nadelkissen wirkte, weil aus den vielen Löchern der Polsterung das hineingestopfte Stroh wieder hervorquoll.
    Als Shan den Raum betrat, erstarben schlagartig alle Gespräche.
    Er war der einzige Han-Chinese.
    Unter den forschenden Blicken der meisten Anwesenden ging Shan zögernd zu einer der umgedrehten Kisten neben dem Tresen. Als er sich setzte und nach einer Feige griff, erlosch das allgemeine Interesse, und der Geräuschpegel stieg wieder an. Zwei der Männer standen auf, um ihre Gläser nachzufüllen, und machten dabei einen großen Bogen um den Sessel. Shan sah, daß der leuchtendrote

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