Das Auge von Tibet
Hemdsärmel des einen Mannes leer zu sein schien. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er, daß dem Fremden einer seiner Unterarme fehlte.
Durch die Rauchschwaden musterte Shan ein Wandgemälde hinter Osman. Es zeigte Gestalten, deren lange Gesichter und Bärte auf eine europäische oder vielleicht auch persische Abstammung hinzudeuten schienen. Sie ritten auf schwerbepackten Eseln auf einen Mann zu, der sie unter einer hängenden Weinrebe erwartete. Jemand hatte einer der Figuren die Augen ausgekratzt, was in moslemischen Ländern keine Seltenheit darstellte, weil hier die religiösen Vorschriften die Abbildung von Menschen untersagten. Über dem Wandgemälde hing an einem Nagel das kleine gerahmte Schwarzweißfoto eines Pferdes. Am anderen Ende der Theke stand in einer Nische neben einem Vorhang ein stark beschädigter steinerner Buddha, dem man einen Zigarettenstummel zwischen die geschürzten Lippen gesteckt hatte. Darüber hing ein handgeschriebenes Schild an der Wand und verkündete: Diese Bar ist nei lou. An der Wand jenseits des Vorhangs prangte eine weiße Flagge mit Halbmond und einem einzelnen Stern.
»Haben Sie Tee?« fragte Shan.
»Sie sehen doch, was wir haben.« Der Mann namens Osman hielt einen ledernen Trinkschlauch hoch. »Kumys«, sagte er und wies dann damit auf die Flaschen. »Baijin. Maotai. Bier. Wodka.« Seine rauhe Stimme klang ungeduldig. »Zwei Yuan.«
»Zwei Yuan?« wiederholte Shan ungläubig. Mit dieser Summe würde man in vielen Teilen Chinas eine ganze Familie verköstigen können.
»Unser Sonderpreis für Besucher aus dem Osten.«
»Dann möchte ich lediglich ein Glas Wasser.«
»Drei Yuan.«
Jemand legte Shan eine Hand auf die Schulter. »Zweimal Tee, Osman«, sagte Jakli.
Der Wirt runzelte die Stirn. »Ist er mit dir hier?«
»Ja. Er ist ein Freund von Tante Lau.«
»Verbürgst du dich für ihn?«
Jakli erwiderte nichts. Sie sah Osman nur an, ging dann zur Wand, zog den Zigarettenstummel aus dem Mund der Buddhastatue und warf ihn zu Boden. »Zweimal Tee.«
Osman musterte sie schweigend, beugte sich dann nach unten, hob eine große schwarze Thermoskanne vom Boden und füllte daraus zwei seiner Gläser mit heißem dunklem Tee.
»Nikki?« hörte Shan sie hastig und beunruhigt fragen, während sie sich im Raum umschaute. »Ich sehe keinen von seinen Leuten.«
Die Frage schien Osman zu beschwichtigen. »Noch nicht. Vielleicht morgen. Eine letzte Karawane. Bald, da kannst du dir sicher sein.« Der große Kasache sah, daß Jaklis Gesicht sich plötzlich vor Sorge umwölkte. »Es geht ihm gut, Mädchen. Ich gebe dir mein Wort. Niemand fängt Nikki.« Er lächelte und enthüllte einen Silberzahn. »Niemand außer dir.« Dann goß er ein weiteres Glas Tee ein, hob es empor und brachte grinsend einen Toast aus. »Auf dunkle Nächte und schlafende Wachposten.«
Shan sah dem Einarmigen hinterher, der mit vollem Glas zu seinem Platz zurückkehrte. Im Gefängnis hatte er Geschichten über Männer gehört, die dem Gulag entflohen und sich dann oberhalb der Tätowierung den eigenen Arm abhackten, um diesen Verweis auf ihre persönliche Vorgeschichte wieder loszuwerden.
Jakli rückte mit ihrem Hocker näher an Shan heran, als wolle sie ihn beschützen. Dann tranken sie beide stumm ihren Tee, während Osman am anderen Ende der Theke Gläser putzte. Als Shan die Anwesenden genauer in Augenschein nahm, erklärte Jakli ihm leise die Regeln dieser Gemeinschaft. Niemand durfte dem Sand Artefakte entreißen, außer sie wurden hier vor Ort benötigt. Niemand baute etwas, das aus der Luft wie ein modernes Gebäude aussehen könnte. Genaugenommen wurde überhaupt nichts gebaut, bevor Osman nicht seine Zustimmung erteilt hatte. Niemand verbrannte das Holz aus den Ruinen, um einerseits keinen verräterischen Rauch entstehen zu lassen und andererseits die Überreste soweit wie möglich zu erhalten. Shan erkundigte sich nach der Fahne. Das sei die Flagge der Republik Ost-Turkistan, in der Osmans Großvater früher als Vizegouverneur von Yutian gedient habe, erklärte Jakli.
»Demnach ist das hier Osmans Stadt?« fragte Shan leise und behielt dabei den Mann hinter der Bar im Blick.
»Meine Vorfahren haben hier gelebt«, warf Osman lautstark ein und kam näher. »Es ist mein Recht.« Er sah Shan in die Augen, als rechne er mit Widerspruch. Erst nach geraumer Zeit wandte er sich an Jakli. »Wo ist Akzu?« fragte er.
»Beim Roten Stein. Das Programm zur Beseitigung der Armut. Es bleiben nur noch
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