Das Auge von Tibet
geflogen waren, um den Bolschewiki zu entgehen, hatten sich bis nach Shanghai durchgeschlagen, um von dort aus nach Europa oder Amerika zu emigrieren. Zwanzig- oder dreißigtausend von ihnen waren jedoch in Turkistan geblieben, auch als eine weitere Generation von Kommunisten das Land annektierte und in Xinjiang umbenannte. Shan hatte früher einmal gehört, daß manche Dörfer im äußersten Norden Xinjiangs wie Siedlungen aus dem zaristischen Rußland wirkten. Heute lebten noch einige tausend eluosi überall in Xinjiang verstreut und genossen sogar besondere Jagd- und Fischfangrechte, weil ihre Vorfahren cks Land ursprünglich von hiesigen Kriegsherren gekauft hatten. Im übrigen hatte die Welt sie vergessen.
»Ich wette, es ist schon viele Jahre her, daß Karatschuk zuletzt Besuch aus Tschambaluk erhalten hat«, sagte Marco und benutzte dabei einen Namen für Peking, den Shan seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Der Begriff stammte aus der Zeit der Yuan-Dynastie, als ganz China von den Khanen regiert wurde, die mit den Turkvölkern Xinjiangs blutsverwandt waren. Vermutlich hätten auch viele der früheren Bewohner Karatschuks diesen Namen benutzt, erkannte Shan.
Marcos Stimme klang nun etwas freundlicher, aber in seinem Blick lag weiterhin Mißtrauen. »Was war Ihre Aufgabe, bevor Sie sich Ihre Tätowierung verdient haben?«
»Ich habe für das Wirtschaftsministerium gearbeitet«, sagte Shan zögernd. »Als Ermittler.«
»Und dann haben Sie gegen die falschen Leute ermittelt.«
»Sieht so aus.«
Marcos Lachen schien die Wände des Raumes zum Einsturz bringen zu wollen. Die Gläserstapel auf der Theke klirrten. Er schenkte sich den nächsten Wodka ein und deutete auf Shans noch unberührtes Glas. »Tja, Genosse Inspektor, hier sind wir alle bloß anonyme Mitglieder des glorreichen Proletariats. Gan bei«, sprach er einen Toast aus und trank.
Shan starrte auf sein Glas und roch schließlich daran. Mehr würde er sich nicht gestatten. Er hatte kein Mönchsgelübde abgelegt, gegen das er durch den Genuß von hochprozentigem Alkohol verstoßen könnte, aber es kam ihm so vor, als würde er dadurch das Andenken an seine Lehrer entweihen, die noch immer im Arbeitslager von Lhadrung gefangengehalten wurden.
Marco hob erneut sein Glas an die Lippen und sah sich unterdessen im Raum um. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne, stieß einen Fluch aus und eilte mit zwei langen Schritten zu dem Tisch mit dem Schachspiel. Dann gab er ein weiteres Geräusch von sich, einen unartikulierten Schrei. »Sie ist weg!« brüllte er.
Osman eilte herbei. »Unmöglich. Gestern abend war deine Kaiserin noch da. Ich habe hier gesessen und über meinen nächsten Zug nachgedacht.«
Marcos Kopf senkte sich. Er wirkte wie ein wütender Stier. »Osman und ich spielen an dieser Partie seit sechs Monaten«, verkündete er, an niemand besonderen gewandt. »Im Winter bringe ich manchmal genug Essen und Getränke mit, um eine Woche nur an diesem Tisch zu sitzen.«
Shan trat an seine Seite. Die Spielfiguren bestanden aus uralter Bronze. Eine Armee war rot, die andere grün, was man anhand der kleinen Rubine und Smaragde erkennen konnte, die in die jeweiligen Köpfe eingelassen waren. Die Figuren waren stark zerkratzt. Niemand mußte Shan erst erklären, daß dieses Spiel lange unter dem Wüstensand gelegen hatte.
»Meine Kaiserin!« rief Marco. Shan sah, daß das rubinverzierte Gegenstück zu der grünen Königin auf Osmans Seite fehlte.
Osman flüsterte Marco etwas ins Ohr und nickte in Hufs Richtung.
»Heilige Mutter Gottes!« brach es aus Marco hervor. Shan zog sich zu Jakli zurück. »Zwei Diebstähle! Ihr Schweine!« Damit waren offenbar gleich alle Anwesenden gemeint. »Laus Leiche ist kaum kalt und jetzt das! Das lasse ich mir nicht bieten. Ich sollte euch alle in den Hintern treten, daß euch Hören und Sehen vergeht. Bei uns herrscht so etwas wie Ehre. Hirten. Männer der Karawanen. Schmuggler. Wir behandeln euch wie Brüder und Söhne. Was glaubt ihr, wo ihr hier seid, zum Teufel? In Urumchi? In Yutian?«
»Dieser Sibo aus Kashi war hier«, wandte Osman vorsichtig ein. »Er ist gerade erst aus dem Gefängnis gekommen. Wahrscheinlich war er es. Nach Huf ist niemand mehr rausgegangen. Aber der Sibo ist fünf Minuten vor Huf von hier verschwunden. Vermutlich hat er die Königin eingesteckt und dann Hufs Beutel gestohlen. Inzwischen ist er meilenweit weg.«
»Der Dieb ist noch immer hier«, sagte Shan leise.
Marco
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