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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weniger als zwei Wochen.«
    Osman verzog das Gesicht. »Diese Mistkerle. Ich habe es ihm gesagt. Bring den Clan her.« Er schloß die Hand fest um eine Flasche und starrte sie einen Moment lang an. »So endet es immer«, sagte er wütend. »Mit Firmen und mit Chinesen, die Reden halten.« Er hob den Kopf und schaute wieder Jakli an. »Ich habe gesagt, besser noch, bring mir Direktor Ko. Er wird sich bei uns wie zu Hause fühlen.« Die Männer am nächstgelegenen Tisch lachten. Osman nickte ihnen lächelnd zu und drehte sich zu Shan. »Haben Sie geschäftlich mit Nikki zu tun?« Sein Argwohn war ihm deutlich anzuhören. »Wollen Sie etwas Bestimmtes kaufen?«
    »Ich bin wegen Tante Lau hergekommen«, sagte Shan. »Sie war.« Aber er merkte, daß Osman ihm nicht zuhörte. Der Wirt hatte etwas gespürt, eine Bewegung, einen nahenden Schatten. Er wandte sich langsam zu dem Vorhang jenseits des Tresens um, und seine Hand verschwand unter dem Tisch, als würde sie nach etwas greifen. Der graue Hund sprang unvermittelt auf und knurrte.
    Es wurde wieder still im Raum, jemand flüsterte eine Warnung, und alle Blicke richteten sich besorgt auf den Vorhang. Plötzlich erschien dort an der Oberkante ein Finger, ein sehr großer Finger, und schob den Vorhang allmählich beiseite.
    Osmans Anspannung verflog sofort. Seine Hand kam wieder unter dem Tisch hervor, und einige der Anwesenden brachen in leisen Jubel aus. Ein kahlköpfiger Mann mit Schaffellweste stand auf und verneigte sich übertrieben tief in Richtung des Vorhangs. Andere erhoben ihre Gläser. Der Hund lief schwanzwedelnd vor.
    »Marco!« rief Jakli voll jäher Freude, rannte dem Fremden entgegen und fiel ihm um den Hals.
    Hätte Shan den Mann beschreiben sollen, der nun den Raum betrat, hätte er lange nach den passenden Worten suchen müssen. Manch anderer hätte womöglich einfach von einem »großen Westler« gesprochen, aber genausogut hätte man auch einen Bären schlicht als »groß« bezeichnen können. Und gewiß hatte der bärtige Fremde das Gesicht, die körperlichen Eigenheiten und die Statur eines Westlers, wenngleich sein Verhalten dem teilweise zu widersprechen schien. Seine Augen waren blau, aber sie musterten die Umgebung mit derselben kühlen und wichen Intelligenz, die Shan bei Akzu und einigen anderen Clanmitgliedern wahrgenommen hatte. Auch seine Haut war von den gleichen ledrigen Fältchen überzogen wie die Gesichter der Nomaden. Es gab allerdings einen deutlichen Unterschied. Das Antlitz des Fremden wies zahlreiche Linien rund um die Augen auf, was bewies, daß er oft lächelte.
    »Genossen!« rief der Mann spöttisch, während er Jakli aus seiner Umarmung entließ und sie zur Theke zog. »Euer Volkskommissar ist da! Ich bringe euch die gute sozialistische Lehre! Zuerst werde ich euch Keuschheitsgürtel anlegen, damit ihr keine Kinder zeugen könnt! Dann schreibe ich euch vor, wie oft ihr rülpsen, saufen oder atmen dürft! All eure Läuse werden registriert, und die Pisse eurer Pferde wird ab sofort besteuert! Und ihr werdet jede Minute davon genießen, denn es geschieht ja alles nur zum Wohl der geliebten Volksrepublik.« Er sprach perfektes Mandarin und stieß die letzten Worte wie Kanonenschüsse hervor. Sein Publikum lachte schallend.
    Der Mann, den Jakli Marco gerufen hatte, grinste breit, griff in die tiefen Taschen seines schweren Mantels und zog daraus zwei Flaschen Wodka mit kyrillisch beschrifteten Etiketten hervor.
    »Aber vorher trinken wir noch einen!« Die Flaschen waren verkorkt. Er brachte ein teures Schweizer Armeemesser zum Vorschein und klappte dessen Korkenzieher aus.
    Osman warf ihm ein Glas zu. »Was gibt's denn diesmal zu feiern, alter Bär?«
    »Was es zu feiern gibt? Daß ich am Leben bin und du am Leben bist! Daß Jakli so schön und Nikki so mutig ist. Daß wir trotz schlechter Chancen ein weiteres Mal die Ernte eingefahren haben. Und daß ich genug Wodka zum Reiterfest mitgebracht habe, um eine ganze Woche lang betrunken zu bleiben! «
    Jeder Mann, sogar der eingeschnappte Huf und sein Begleiter, sprang auf und eilte zur Bar, um sich von Marco einschenken zu lassen. »Auf die Schmuggler!« rief er, sobald alle zwei Fingerbreit Wodka im Glas hatten. »Wan sui!« Sein Ruf ließ die Lampen erbeben. »Zehntausend Jahre! Wan sui für alle Schmuggler, die ehrbarsten aller Werktätigen.« Er betrachtete sein Glas für einen Moment. »Wir täuschen nicht vor, Regeln zu befolgen, an die wir nicht glauben«, verkündete er

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