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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Die Leute kamen zu ihr und berichteten ihr von ihren Alpträumen, Ängsten und schmerzlichen Erinnerungen. Danach fühlten sie sich besser, als habe Lau ihnen eine Bürde abgenommen und sich selbst aufgeladen, um ihnen die Heilung zu ermöglichen.«
    »Sie sagen, die Leute haben sich ihr anvertraut?«
    Jakli nickte. »Ja, das stimmt. Ich habe mich auch schon gefragt, ob ihr jemand womöglich ein Geheimnis verraten hat, von dem sie eigentlich nichts erfahren durfte. Was ist, wenn der Betreffende sich später anders entschieden und beschlossen hat, sie zum Schweigen zu bringen? Die Leute trinken viel und werden geschwätzig. Lau hatte so eine Art an sich, andere zum Sprechen zu bringen.«
    »Nein«, widersprach Marco. »Du hast sie an jenem Abend nicht gesehen. Ihre geschundenen Beine. Wenn du verhindern willst, daß sie dein Geheimnis ausplaudert, erschießt du sie einfach. Wenn du aber willst, daß sie dir das Geheimnis eines anderen verrät, schlägst du sie erst.«
    Shan biß ein Stück Brot ab und blickte auf. »Soll das heißen, Sie haben Lau gesehen?«
    Marco starrte ins Leere. »Das soll heißen, ich habe sie gefunden. Zusammen mit Nikki. Genaugenommen zuerst er, an dem ruhigen Ort, den sie so gern aufgesucht hat. Sonst sind meistens nur sie und Jakli dorthin gegangen.« Er schaute Jakli an. »Du hast Nikki gefehlt. Ich glaube, er ist hingegangen, weil er sich dort an dich erinnert gefühlt hat. Aber als er eintrat, war Lau an die alte Statue gefesselt. Da hat er mich geholt, mit Tränen in den Augen.« Der große eluosi sah auf seine Hände herab. »Seine Mutter hat ihm beigebracht, daß es manchmal nicht schlimm ist, wenn man weinen muß.« Marcos Blick fiel auf Jakli, die ebenfalls mit den Tränen zu ringen schien.
    »Als früher die Roten Garden durch das Land zogen, habe ich so etwas häufig gesehen«, sagte Marco verbittert. »Sie haben ihren Opfern mit einem Hammer einzelne Fußknochen zertrümmert. Wenn man es richtig anstellt, wird die Haut dadurch sehr schmerzempfindlich. Dann haben sie mit einem Stock auf Füße und Schienbeine eingeschlagen. So konnten sie ohne große Kraftanstrengung ungeheure Schmerzen verursachen. Manchmal haben sie einfach nur Eßstäbchen genommen und damit die Haut malträtiert. Erst ein Fuß, dann der andere, falls das Opfer noch immer nicht reden wollte. Später sah man die Leute über die Straße humpeln. Die Kriecher haben laut gelacht und sie als torkelnde Säufer verhöhnt, weil es ihnen nicht mehr möglich war, in gerader Linie zu gehen. Wenn jemand durchhielt, verstümmelten sie ihm beide Füße. Niemand konnte danach noch nennenswerte Strecken zurücklegen. Ich glaube nicht, daß Laus Mörder je vorhatte, sie am Leben zu lassen, ganz egal, was sie ihm erzählt hat.«
    Jakli wandte sich schluchzend ab und lief in den hinteren Korridor. Osman folgte ihr fast auf dem Fuß.
    »Vielleicht hat sie ihm auch gar nichts erzählt«, fügte Marco hinzu. »Lau war ziemlich zäh.« Er goß für sie beide Tee ein.
    »Doch, sie hat geredet«, sagte Shan und berichtete Marco von dem Striemen und der Einstichstelle an ihrem Arm.
    Marco seufzte tief. »Weshalb dann überhaupt die Schläge?« fragte er in sein Glas.
    Shan sah ihm in die Augen und begriff, daß es keiner Antwort bedurfte. Die Injektion bedeutete, daß der Mörder sich mit Verhörtechniken auskannte. Wenn so jemand erst einmal abgehärtet war, fand er oftmals Geschmack daran, andere leiden zu sehen.
    Lange Zeit sprach niemand ein Wort.
    »Einen Kriecher oder Soldaten hätten wir bemerkt«, sagte Marco dann leise und wütend.
    »Nicht, wenn es ein Mann mit entsprechender Ausbildung gewesen ist. Oder wenn er über eine gute Tarnung verfügt hat.« Dann berichtete Shan von dem Zusammentreffen mit Anklägerin Xu im Lager Volksruhm und wie sie ihn irrtümlich für einen Agenten der Kriecher gehalten hatte.
    »Mein Gott«, sagte Marco und wandte den Kopf, um die leeren Tische zu mustern, als wolle er sich jeden einzelnen der Männer ins Gedächtnis rufen, die vor kurzem noch dort gesessen hatten. »Es ist eine schlimme Zeit.«
    Shan betrachtete den grübelnden eluosi . Eine schlimme Zeit nur wegen des Verrats? überlegte er. Oder ein schlechter Zeitpunkt für einen solchen Verrat, weil noch etwas anderes vor sich ging?
    »Warum hier?« fragte Shan. »Sie waren hier. Ein paar andere auch. Diese Ansiedlung ist nicht besonders groß, und es gibt hier nicht allzu viele Verstecke. Meiner Meinung nach ist der Mörder mit seiner Tat

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