Das Auge von Tibet
ein großes Risiko eingegangen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, denn auf einmal mußte alles ganz schnell gehen. Er konnte nicht länger warten.«
»Seitdem hat sich aber nichts verändert.«
»Noch nicht«, sagte Shan und sah, daß Marco die Zähne zusammenbiß. »Was ist, wenn es sich bei dem Geheimnis, für das Lau gestorben ist, um Ihr Geheimnis gehandelt hat?«
Marco stürzte den Rest seines Tees mit einem großen Schluck herunter und starrte Shan durchdringend an. »Sie sollten nach Hause gehen, Genosse Inspektor. Ich werde mir die Mistkerle schnappen.«
»Das klingt, als wüßten Sie, wer es getan hat.«
»Noch nicht. Aber ich bin auf diesem Gebiet nicht ganz unbewandert. Ich jage Mistkerle.« Seine Stimme klang düster und schwer, als wolle er der ganzen Welt drohen, auch Shan. »Es ist so eine Art Hobby«, fügte er lächelnd hinzu. »Ich vergesse nichts. Ich beobachte. Und ich sorge dafür, daß auch andere sich erinnern.«
Shan musterte ihn stumm. Ein vergessener Mann aus einem vergessenen Volk, ohne legale Reisepapiere, ohne die Hoffnung, je legale Papiere zu erhalten. Ähnlich wie Shan. Vielleicht war dies auch Shans eigentlicher Beweggrund. Er wollte die Mistkerle erwischen, wer auch immer sie sein mochten. Er mußte an den Vorfall mit Huf denken. Marco hatte sich den Mistkerl geschnappt.
Der eluosi wirkte plötzlich sehr müde. Er streckte sich, stand mühsam auf, ging in die Mitte des Raumes und ließ sich auf den Polstersessel fallen. Dann schloß er die Augen und war kurz darauf eingeschlafen, wie seine tiefen, langsamen Atemzüge verrieten.
Shan blieb sitzen und versuchte, den Mord an Lau zu begreifen. Gleichzeitig kämpfte er gegen eine Sorge an, die ihm beständig zusetzte, die Sorge um Gendun und dessen Sicherheit. Aus dem Korb holte er sich das Stück Papier, in das der Ball eingewickelt gewesen war, strich es glatt und entwarf auf der sauberen Rückseite einen ungefähren Lageplan von Karatschuk, um den Ort von Laus Ermordung kennzeichnen und besser einordnen zu können, sobald Jakli ihn schließlich dorthin gebracht hatte. Lau war weder in diesem Raum noch in einer der nahen Hütten gestorben. Er dachte an Bajys' Worte zurück. Auf der Suche nach ihr war der Kasache zu dem Ort im Sand gelaufen und dort zur lhakang, der heiligen Stätte, geeilt. Dabei mußte es sich um den ruhigen Ort handeln, von dem Marco erzählt hatte, den Ort, an dem Laus Leiche entdeckt worden war. Bajys war jedoch zu spät gekommen. Er hatte nicht etwa Lau in Karatschuk angetroffen, sondern nur Leichenteile vorgefunden. Lau war an dem ruhigen Ort gestorben, gefesselt an eine Statue, hatte Marco gesagt. Shan ließ sich neben der Bar auf dem Boden nieder und nahm dabei mit übergeschlagenen Beinen den Lotussitz ein, um über seine Karte nachzusinnen. Dann stand er auf und ging in den hinteren Korridor.
Der gewundene Gang führte zu einer kleinen Brettertür. Sie lag am hinteren Rand des provisorischen Gemeinwesens und öffnete sich auf eine Sandfläche, an deren anderem Ende die Felsformation aufragte, die zugleich die Ostgrenze der uralten Stadt darstellte. Die Sonne stand tief am Himmel. Es wehte ein kühler Wind. Ansonsten regte sich nichts, abgesehen von dem Gehege, wo sich inzwischen ein halbes Dutzend Kamele zu den Pferden gesellt hatte, darunter ein besonders großes silberweißes Exemplar, das Shan interessiert entgegenzublicken schien.
Er kletterte den Felsvorsprung empor und hielt inne, als er sich auf halber Höhe und damit unmittelbar oberhalb des Kuppelgebäudes befand. Dort nahm er Platz und lehnte sich gegen den warmen Felsen. Er war geistig und körperlich erschöpft. Jemand hatte hier eine Frau gefoltert, eine Heilerin und Lehrerin. Sie war wegen eines Geheimnisses ermordet worden, doch um ihrer habhaft zu werden, hatte auch der Mörder in ein Geheimnis eindringen müssen, in das Geheimnis von Karatschuk. Weil sie eben nicht nur eine Heilerin und Lehrerin gewesen war. Lau hatte anscheinend in vielen Welten gelebt, so wie Shan viele Welten durchqueren mußte, um an diesen Ort zu gelangen, diese Geisterstadt in der Wüste, in der die sanftmütige Lau von einem grausamen Ende ereilt worden war.
Er holte den Zettel hervor, den er bei dem toten Amerikaner gefunden hatte, und betrachtete die seltsamen Buchstabenfolgen. In der ersten Zeile stand FBE War das vielleicht eine Art Zahlencode, in dem man F mit sechs gleichsetzen mußte, weil es sich um den sechsten Buchstaben des englischen
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