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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Alphabets handelte? Shan zählte im Geiste kurz nach. FBP würde dann sechs, zwei und sechzehn bedeuten. Was also? Eine Adresse? Eine Telefonnummer? Oder standen die Buchstaben als Abkürzungen für irgendwelche Orte? FBP konnte Frankfurt, Bangkok und Paris heißen oder irgendeine andere von tausend möglichen Kombinationen. Shan seufzte und tröstete sich mit dem Gedanken, daß dieses Stück Papier ohnehin keine Rolle bei dem Geheimnis spielte, das er hier zu lösen hatte.
    Er war müde. Die Lider wurden ihm schwer. Einen Moment lang sah er das Karatschuk von früher vor sich, roch die Gewürze aus der Fracht der Karawanen, hörte das Knarren der Brunnenseile und das Lachen der Kinder, die schon seit vielen Jahrhunderten tot waren. Auch nach so langer Zeit war dies hier immer noch eine Oase, ein Refugium für Flüchtlinge der rauhen Außenwelt. Vielleicht bedeutete die Tatsache, daß die gegenwärtigen Bewohner von aller Politik und Technik abgeschnitten waren, nur eine um so größere Ähnlichkeit mit den ursprünglichen Bürgern der Stadt. Irgendwo bellte ein Hund, ob im Traum oder in der Wirklichkeit, vermochte Shan nicht zu sagen. Auf der fernen Mauer hüllte der Wind einen der steinernen Wächter in Sandschwaden, so daß die Statue plötzlich einen in der Brise wehenden Umhang zu tragen schien.
    Shan ließ den Blick über die Ruinen schweifen und dachte unvermittelt nicht mehr an das Geheimnis um Laus Tod, sondern an das Geheimnis des Lebens. Auf seinem Gesicht erschien ein kleines trauriges Lächeln. Er schloß die Augen und versank in der Zeitlosigkeit seiner Umgebung. Über der Karawanenstadt seiner Phantasie lag der Wohlgeruch von Gewürzen, so wie der Ingwer, den er in jenen seltenen, vollkommenen Momenten wahrnahm, wenn es ihm gelang, eine Vision seines Vaters heraufzubeschwören. Doch als er die Augen öffnete und in den rot glühenden Abendhimmel blickte, wurde der Geruch dermaßen intensiv, daß Shan aufstand, um die Ursache zu ergründen. Das waren keine Gewürze, erkannte er kurz darauf, sondern Weihrauch. Er folgte dem Duft weiter nach oben.
    Die Formation war breiter, als Shan vermutet hatte. Nahe der Mitte des mindestens dreißig Meter messenden Plateaus erblickte er im Schatten eine Treppe, die in einer Felsspalte verschwand. Die von Menschenhand bearbeiteten Stufen waren durch Jahrhunderte des Gebrauchs glatt und ausgehöhlt. Shan machte sich auf den Weg in die Tiefe, und schon nach wenigen Schritten hörte er eine weinende Frau.

Kapitel 7
    Die Lücke zwischen den Felsen schloß sich schnell zu einem Gang, der allerdings nicht vollständig natürlichen Ursprungs war, denn man hatte über der Kluft vor langer Zeit ein Dach errichtet und die Wände mit Mörtel begradigt. Die ersten zehn Meter lagen in völliger Dunkelheit. Shan befürchtete, er könnte in eine verborgene Spalte stürzen, und wollte schon umkehren, als der Korridor eine Biegung beschrieb, hinter der eine flackernde Öllampe ein wenig Licht spendete. Die Flamme beleuchtete ein verblaßtes Bild an der Wand, den Kopf eines wütenden Stiers, der ein Halsband aus Schädeln trug. Es war eine Gestalt aus der buddhistischen Mythologie: Yamantaka, der König der Toten. Im Abstand von jeweils etwa drei Metern brannten zwei weitere Lampen. Shan folgte dem Gang und betrachtete dabei voller Ehrfurcht die Wandgemälde, die nun wilde Tiere und Landschaften zeigten. Hinter der vierten Lampe war der Putz abgebröckelt, so daß der nackte Fels zutage trat. Danach veränderten sich die Bilder. Shan sah ein sanft blickendes Reh, das ihm durch seine Besuche in den gompas bereits vertraut war. Es stand als Symbol für Buddhas Heim in Indien und leitete einige Szenen aus dem Leben Buddhas ein.
    Der gewundene Tunnel endete in einer breiten Kammer, die ursprünglich eine Senke in der Oberfläche des Felsvorsprungs gewesen und später überdacht worden war, wie Shan bemerkte. Ein Dutzend Lampen in Nischen erhellten ein ehemals prächtiges Wandgemälde, die lange zusammenhängende Bildfolge einer Reise durch ein uraltes Land. Zu seiner Linken sah Shan Schafe unter Weidenbäumen, die entlang einer Straße wuchsen, welche als verbindendes Element des Gemäldes diente. Die Straße verlief durch niedrige bewaldete Berge, und berittene Bogenschützen tauchten auf. Im Hintergrund der Kammer verschwand das Bild im Schatten und war dann rechts von Shan wieder zu sehen, wo Kamelkarawanen durch den Sand auf ein schneebedecktes Gebirge zuwanderten.
    Hinter einem

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