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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Priester«, sagte sie.
    »Auch gut«, sagte Deacon und lächelte. »Von tibetischen Priestern halte ich ebenfalls eine ganze Menge.« Er wandte sich an Marco. »Und du?«
    Der eluosi runzelte die Stirn. »Ich kenne Priester und Mullahs. Und ich kenne Volkskommissare. Mit den Kommissaren komme ich besser zurecht.«
    Deacon lachte, griff hinter den Tresen und zog aus einem Karton eine Flasche Wasser hervor. Er schenkte ein Glas für Shan und dann eines für sich selbst ein. »Das einzig Wahre. Und es ist kostenlos.« Shan sah ihn an. Hatte er die ganze Zeit vom hinteren Korridor aus zugehört?
    »Wann kommt Nikki?« Jakli platzte mit dieser Frage dermaßen plötzlich und kraftvoll heraus, daß Shan sich zu ihr umdrehte.
    »Die Karawanen lassen sich nur schwer voraussagen.« Marco zuckte die Achseln. »Womöglich hat er beschlossen, sich wegen der Patrouillen einige Tage in Ladakh zu verkriechen.« Er legte Jakli eine seiner riesigen Pranken auf den Kopf, so wie ein Vater seine Tochter berühren würde. »Er wird dir etwas Glänzendes mitbringen. Oder vielleicht auch etwas Feines und Durchsichtiges.«
    Jakli errötete und schob Marcos Hand spielerisch beiseite. Doch sie wurde schnell wieder ernst. »Shan muß soviel wie möglich über Tante Lau erfahren. Mittlerweile sind auch zwei der Kinder tot.« Osman stieß eine Verwünschung aus. Marco hob knurrend den Kopf und wirkte auf einmal wieder völlig nüchtern, als Jakli von Suwan und Alta berichtete. »Shan glaubt, das alles hängt mit Lau zusammen. Er muß wissen, wer sie vielleicht ermorden wollte. Und was vor ihrem Tod geschehen ist.« »Eine gute Frau«, sagte Marco ernst. »Ein schlimmer Tod.«
    »Warum sollte jemand einer unschuldigen Frau so etwas antun?« fragte Shan.
    »Unschuldig?« entgegnete Marco. »Das wäre mir neu.«
    »Sie halten sie nicht für unschuldig?«
    »Natürlich nicht. Sie etwa? Ich selbst bin ganz bestimmt nicht unschuldig. Osman auch nicht. Mein Kamel ebenfalls nicht. Und daß Jakli nicht unschuldig ist, hat man ihr dreimal hintereinander nachgewiesen.« Die Worte ließen Jakli bitter lächeln. Marco sah zu Osman. »Hast du jemals einen unschuldigen Menschen kennengelernt, alter Freund? Ich nicht. Zum Teufel, Osman hat eine sechs Monate alte Nichte, die noch von ihrer Mutter gestillt wird. Nicht mal sie ist unschuldig. Sie ist Kasachin.«
    »Wollen Sie damit sagen, Lau sei ermordet worden, weil sie eine Kasachin war?« fragte Shan.
    »Nein. Aber vielleicht war es letzten Endes doch der Grund. Weil das Leben als Kasachin sie zu dem gemacht hat, was sie war. Diese Schweine.«
    »Welche Schweine?«
    Marco goß den letzten Rest Wodka in ein Glas. »Einfach nur Schweine im allgemeinen«, murmelte er.
    Shan drehte sich zu dem hinteren Korridor um. Der Amerikaner war fort. Er spürte Marcos Blick.
    »Sie sollten besser auch von hier verschwinden«, sagte der eluosi drohend und wischte sich den Mund am Ärmel ab. »Dies ist ein schlechter Ort, um Fragen zu stellen.«
    »Wenn du mit ihm reden würdest, müßte er vielleicht gar nicht so viele Fragen stellen«, warf Jakli ein.
    Marco seufzte. Er trat hinter die Theke, holte drei der flachen nan-Brote, warf Shan und Jakli je eines davon za, nahm dann auf einem Hocker Platz und kaute nachdenklich auf dem dritten Brot herum, während Osman die Gläser von den Tischen einsammelte. »Es war kurz bevor Nikki mit der letzten Karawane aufgebrochen ist«, sagte Marco. »Wir mußten noch einige Leute zusammenbekommen. An jenem Abend kam Lau angeritten. Sie war sehr aufgeregt.«
    »Ist sie allein hergekommen?« fragte Shan.
    »Ja. Ihr Pferd war so erschöpft, daß wir befürchten mußten, es würde sterben. Osman ist bei ihm geblieben, hat es abgerieben und am Zügel herumgeführt, damit es sich abkühlen konnte, bevor es etwas zu trinken bekam.«
    »Mit wem hat sie gesprochen?«
    »Mit niemandem und jedem.« Marco starrte sein Brot an und hob den Kopf. Sein Blick verriet tiefe Trauer. »Nach Ansicht der Leute war sie eine Heilerin, aber kaum jemand hat begriffen, was ihr wichtigstes Verdienst gewesen ist, die wichtigste Art von Heilung.« Er biß ein Stück Brot ab und kaute darauf herum. »In der Wüste lebt eine kleine braune Maus«, sagte er gedankenverloren. »Sie sammelt alles mögliche, wie eine Packratte. Aber ihr Lebensraum ist so unwirtlich, daß sie meistens nur Dornen, scharfe Kristallsplitter und kleine, vertrocknete tote Dinge findet. Lau war auch so, und gesammelt hat sie die Sorgen der anderen.

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