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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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dem Papier, und ein Ball rollte daraus hervor, ein weißer Lederball von etwas mehr als sieben Zentimetern Durchmesser und mit dicken rötlichen Nähten. Obwohl Shan noch nie einen solchen Ball gesehen hatte, kam er ihm irgendwie bekannt vor. Er sah zu, wie Osman den Ball nahm, Huf mit einem Kopfschütteln bedachte, die kleine Lederkugel auf eines der Gläser legte und das zerknitterte Papier dann in einen Korb warf, der fast vollständig mit leeren Flaschen gefüllt war.
    Die Männer im Raum schoben sich unterdessen langsam zur Tür hinaus und versuchten, dabei möglichst unauffällig zu wirken. Sie wandten ihre Gesichter ab, als hätten sie Marcos Miene etwas entnommen, das ihnen Angst einflößte. Als Marco es bemerkte, waren nur noch sechs Männer da. »Nein!« rief er. »Ihr bleibt, damit ihr es bezeugen könnt!»
    Der große eluosi wies auf den Boden vor der Theke, und Huf trat vor. Er duckte sich und hob die Arme ein Stück, als rechne er damit, geschlagen zu werden. »Huf, du Dieb, du wirst folgendes tun«, verkündete Marco und umkreiste den Tadschiken dabei mit großen Schritten. »Osmans Onkel hat ein Lager in der Nähe des Wildbärenbergs, an der Furt des Zartwasserflusses. Dorthin wirst du gehen und den Leuten meine Worte ausrichten. Einer ihrer Söhne ist in diesem Frühjahr an einem Fieber gestorben. Sie befinden sich außerhalb des Bezirks und fallen damit nicht unter das Armutsprogramm. Was bedeutet, daß sie bald ihr Winterlager aufschlagen müssen. Sie werden Hilfe benötigen, um Futter für die Tiere zu sammeln und die Ziegen zu melken. Falls du von dort verschwindest, bevor sie die Herden wieder auf die Frühlingsweiden treiben, werde ich es erfahren. Wir alle werden es erfahren und wissen, daß du tatsächlich ein Mann ohne jedes Ehrgefühl bist. Und dann wirst du nirgendwo mehr sicher sein. Hast du mich verstanden?«
    Huf ließ die Arme sinken und nickte erst zögernd, dann mit mehr Nachdruck, als sei er dankbar für Marcos Barmherzigkeit.
    Shan war verblüfft. Marco hatte den Mann soeben genauso selbstverständlich verurteilt, als würden sie sich alle in einem Gerichtssaal mit bewaffneten Wachposten aufhalten.
    Osman sprach am Ausgang mit Hufs Gefährten, der grimmig nickte und seinen Freund dann nach draußen begleitete. Shan starrte auf die leere Türöffnung. Der Tadschike hatte eine dumme, eine nahezu unglaublich törichte Tat begangen. Lag all dem vielleicht ein Motiv zugrunde, von dem sie nichts wußten? Shan nahm den Ball und warf ihn von einer Hand in die andere, bis ihm plötzlich auffiel, daß eine englische Inschrift in das Leder geprägt war: »Made in America». Er übersetzte es für Jakli in mandarin und benutzte dabei den traditionellen chinesischen Ausdruck für Amerika: Mei Guo, schönes Land.
    »Ein schöner Ball für ein schönes Land«, sagte hinter ihm eine tiefe Stimme auf englisch. Shan fuhr erschrocken herum und sah dort einen hochgewachsenen Mann von etwa fünfundvierzig Jahren stehen, dessen rotblondes Haar teilweise ergraut war. Hinter einer Brille mit goldfarbenem Metallgestell funkelten Shan zwei hellblaue Augen an. An der linken Hand trug der Mann einen überdimensionalen Lederhandschuh, in den er jetzt mit der rechten Faust schlug und ihn dann Shan entgegenhielt. »Der gehört wohl mir«, sagte er mit herausforderndem Blick.
    Shan wog den Ball noch einmal in der Hand und warf ihn dann in den Handschuh. Er wußte nun, worum es sich dabei handelte. »Baseball«, sagte er auf englisch und mit unbeholfener Betonung. Zum letztenmal hatte er dieses Wort vor mehr als dreißig Jahren laut ausgesprochen, zusammen mit seinem Vater. Er erwiderte den ruhigen Blick des Fremden. »Sie sind Amerikaner«, fügte er dann hinzu, als Feststellung, nicht als Frage.
    »Verdammt, Deacon«, murmelte Marco. »Du kennst ihn nicht.«
    »Er ist mit Jakli hier«, sagte der Mann. »Das reicht mir.«
    Was hatte das zu bedeuten? überlegte Shan. Durfte normalerweise kein Fremder den Amerikaner zu Gesicht bekommen? Offenbar stand Jakli diesen beiden seltsamen Männern bedeutend näher, als zunächst vermutet. Nachdenklich musterte er Deacon. Er hatte erst kürzlich einen anderen versteckten Amerikaner gefunden, eingewickelt in ein Leichentuch aus Leinen.
    »Jacob Deacon«, sagte der Mann und streckte Shan die Hand entgegen. »Einfach nur Deacon reicht aus. Sind Sie ein Freund von Nikki?«
    Shan erwiderte den Händedruck zögernd und sah Jakli an.
    »Er ist der Freund einiger tibetischer

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