Das Auge von Tibet
wuchtigen Tisch in der Mitte des Raumes standen mehrere primitive Bänke, und auf einem alten Teppich lagen einige Sitzkissen. Dort saß Jakli und starrte auf eine Lampe in ihrer Hand. Sie schien gar nicht zu bemerken, daß Shan an den Tisch trat, auf dem sich sechs lange rechteckige Sandelholzschachteln befanden, die zwar schlicht, aber meisterhaft und millimetergenau gearbeitet waren. Pechas nannte man sie, diese tibetischen Bücher aus losen Seidenblättern oder Pergamentseiten, die in einem hölzernen Kästchen aufbewahrt wurden. Eines der Bücher war geöffnet, und mehrere seiner Seiten lagen in einer Reihe auf dem Tisch, als habe jemand darin gelesen. Hinter den Büchern stand eine bronzene Buddhastatue von ungefähr dreißig Zentimetern Höhe und daneben einige kleinere Buddhas aus Gold, die jeweils nicht mehr als sieben oder acht Zentimeter maßen. Unter dem Tisch sah Shan eine Holzkiste, die von einem verstaubten Stück Stoff bedeckt wurde. Er hob eine Ecke des Tuches an. Im Innern der Kiste lagen zahlreiche Spindeln und Zylinder, Einzelteile von Gebetsmühlen, wie sie tibetische Buddhisten benutzten.
Shan nahm neben Jakli Platz. »Das hier war der Ort, nicht wahr?«
Sie weinte. Nicht länger laut und schluchzend, wie er es noch von draußen gehört hatte, eigentlich sogar ohne wahrnehmbare Regung, aber während sie stumm in die Lampe blickte, sah er zwei Tränen über ihre Wangen rinnen. Dann hob sie ohne jede Spur von Verlegenheit den Kopf und nickte in Richtung eines Strohlagers vor der Wand, in der dunkelsten Ecke der Kammer. Er nahm eine Lampe und ging dorthin. Das Lager war zu Füßen eines großen Gegenstands errichtet, der von einer Decke verhüllt wurde. Shan zog daran, bis die Decke herunterrutschte und den Blick auf eine steinerne, knapp einen Meter hohe Buddhastatue freigab. Im Mörtel direkt oberhalb der linken Schulter des Buddhas gähnte ein einzelnes kleines Loch, von dem mehrere Risse ausgingen. Entlang der linken Seite der Statue verlief eine rostfarbene Spur bis zum Boden.
»Zum erstenmal hat sie mich vor einigen Jahren hierhin mitgenommen, und dann immer wieder, wenn wir zusammen in Karatschuk waren.«
»Hat sie mit Ihnen in den buddhistischen Büchern gelesen?«
»Gelegentlich. Aber meistens haben wir einfach nur hier gesessen und geredet. Hier hat uns niemand gestört.« Jakli sah sich mit wehmütigem Lächeln im Raum um. »Ich kann mir vorstellen, daß dieser Ort auf manche Leute eine große Anziehungskraft ausüben würde, sobald sie erst einmal davon wüßten.« Shan verstand, was sie sagen wollte, denn er spürte die ehrfürchtige Ausstrahlung der Kammer. Auch er würde immer wieder an einen solchen Ort zurückkehren wollen. Die junge Frau schaute erneut in die Flamme. »Manchmal hat Lau mich etwas Heilkunde gelehrt. Und im Anschluß an die Ratssitzungen hat sie bisweilen davon erzählt, was für alberne Dinge die Leute in den Städten veranstalten. Seit sie wußte, daß meine Mutter Tibeterin war, hat sie mir geholfen, ihr Andenken zu bewahren.«
»Wollten Sie eine Buddhistin werden?«
Jaklis Blick hatte sich auf die befleckte Statue gerichtet. »So deutlich hat Lau es niemals formuliert. Ich solle meinen inneren Gott ehren, das waren ihre Worte.« Sie hob die Lampe, als wolle sie Shans Gesicht besser erkennen können. »Der buddhistische Glaube ist keine schlechte Sache.«
»Nein, das ist er nicht«, sagte Shan mit traurigem Lächeln. Er bemerkte, daß Jakli seine Hand ansah. Er hatte die Finger um das gau geschlossen, das er um den Hals trug.
»Sind Sie denn ein Buddhist?« fragte sie verwirrt.
»Als ich noch klein war, hat mein Vater mich in die alten taoistischen Tempel mitgenommen. Dann wurden sie zerstört. Später haben mich buddhistische Lamas unterrichtet«, sagte Shan seufzend und erinnerte sich an die geheimen Altäre aus Zweigen, die sie in den Gefängnisbaracken errichtet hatten, die malas aus Obstkernen oder Fingernägeln und die Gebetsmühlen aus Blechdosen. »Aber die taoistischen Verse habe ich trotzdem nie vergessen, wegen ihrer Weisheit und als Erinnerung an meinen Vater.« Er betrachtete das Wandgemälde. Und die buddhistischen Verse bewahre ich in meinem Herzen, weil sie mich nach meinem Tod ins Leben zurückgeholt haben, hätte er beinahe hinzugefügt. »Ich schätze, wir beide sind uns ähnlich«, sagte er. »In uns vereinen sich viele verschiedene Einflüsse.« Er sah den kleinen Buddha an. In einer der Lagerunterkünfte hatte er einst einen Altar
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