Das Auge von Tibet
gesehen, der lediglich aus ein paar geschwungenen Linien bestand, die jemand in die Wand geritzt hatte, um den Umriß eines sitzenden Buddhas anzudeuten.
»Ich war mir nie sicher. Ich hatte Angst, einen von beiden zu enttäuschen, entweder meine Mutter oder meinen Vater«, sagte Jakli versonnen. »Doch hier. Es war Marco, der mir Karatschuk gezeigt hat, als Nikki und ich noch Kinder waren. Wir saßen auf den Felsen und haben nach Gespenstern Ausschau gehalten. Wir hatten keine Angst. Jahrhundertelang hatte es hier nur Gespenster gegeben. Aber im alten Karatschuk war das anders. Schauen Sie nur.« Sie stand auf und ging mit ihrer Lampe zu dem Fresko auf der anderen Seite des Tisches, in der Nähe der Karawanenszene. Es zeigte ein Kuppelgebäude, bei dem es sich um eine Moschee zu handeln schien und vor dem Männer in den roten Gewändern der buddhistischen Geistlichkeit standen und offenbar mit den Mullahs sprachen. »Hier haben die Buddhisten und Moslems gelernt, in Frieden zusammenzuleben und ihre Weisheit zu teilen.«
Sie starrte das Strohlager an, auf dem Lau gestorben war. »Ich habe ihr so viel erzählt«, sagte sie, und eine weitere Träne stahl sich auf ihre Wange. »Was ist, wenn Lau wegen meiner Geheimnisse ermordet wurde?«
»Sind Ihre Geheimnisse denn so gefährlich?« fragte Shan überrascht.
»Vielleicht.«
Ihm fielen Marcos Worte in der Gaststube ein. Und daß Jakli nicht unschuldig ist, hat man ihr dreimal hintereinander nachgewiesen.
»Geht es um dieselbe Sache, wegen der man Sie ins Reislager gesteckt hat?« fragte er leise und musterte das Loch über der Statue. Laus Kopf hatte keine Austrittswunde aufgewiesen. Demnach hatte der Mörder mit Absicht einen Schuß in die Wand abgegeben. Vielleicht um Lau gefügig zu machen, damit sie stillhielt, während er sie an den Buddha fesselte.
Jakli zuckte die Achseln. »Sie wissen, wie das ist. Chinesische Überwachung. Ein paar zu laute Äußerungen, und schon sitzt man hinter lao jiao Stacheldraht.«
»Dreimal«, sagte er. Drei Schüsseln, dachte er und erinnerte sich an Wangtus Worte.
»Beim erstenmal habe ich einer chinesischen Lehrerin widersprochen, als sie behauptete, die Kasachen und Uiguren würden von den Chinesen abstammen. Sie hat mich zum Schulleiter gebracht. Der hat mich mit einem Rohrstock verprügelt, und ich habe mich für meine Äußerung entschuldigt. Aber nach Schulschluß gab es draußen eine Kundgebung der moslemischen Schüler. Der Schulleiter sagte, das sei meine Schuld, denn ich hätte einen politischen Protest organisiert. Daraufhin mußte ich im Lager Volksruhm elf Monate lang die Weisheiten des Vorsitzenden auswendig lernen. Danach durfte ich nicht mehr zurück in die Schule.«
»Aber das war nur das erste Mal.«
Jaklis Blick richtete sich wieder auf die Ölflamme. »Bei einem Treffen des Kollektivs verkündeten die chinesischen Geburtenkontrolleure eine neue Vollzugskampagne. Ich stand auf und fragte, welches Recht sie dazu hätten. Immerhin würden wir ausreichend Nahrungsmittel produzieren, um unsere Familien zu ernähren, und außerdem gäbe es genug Land für alle. Ich sagte, sie würden uns die Zahl der Babys vorschreiben und gleichzeitig alle guten Ärzte nur für die Han-Chinesen reservieren, so daß viele unserer Kinder sterben müßten. Das sei ein geplanter langsamer Völkermord.«
»Das haben Sie gesagt?« fragte Shan ungläubig. »Völkermord?«
»Es hat mir zwölf weitere Monate eingebracht, diesmal in einem Lager in der Wüste. Dort war alles voller Sand. Aber ich habe nur die Wahrheit gesagt.«
»Ich weiß«, räumte Shan bekümmert ein. »Ich habe allerdings noch nie gehört, daß jemand es gewagt hat, so etwas öffentlich zu äußern.«
»Dann gab es eine Kampagne gegen Schmuggler. Im Lager unseres Clans wurden in einem der Zelte westliche Arzneimittel und tragbare Kassettengeräte gefunden. Sie wissen schon, kleine Geräte mit Kopfhörern. Die Chinesen hatten keine Beweise und wußten nicht, wessen Zelt das war. Also habe ich behauptet, es wäre meines.«
»Aber Sie haben gar nicht geschmuggelt.«
»Nein. Es war das Zelt meines Onkels, und die Sachen stammten von Nikki. Ich konnte nicht zulassen, daß einer der beiden verhaftet wird. Mein Onkel muß auf den Clan aufpassen. Und Nikki würden sie richtig in die Mangel nehmen. Er würde hinter Stacheldraht wie ein Tiger im Käfig dahinvegetieren. Mir hingegen konnte man lediglich vorwerfen, illegale Waren versteckt zu haben. Also bekam ich zehn
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