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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weitere Monate Umerziehung aufgebrummt.«
    »Aber nach der dritten Strafe kommt man automatisch in Arbeitslager«, sagte Shan ernst. »Ins Gulag.« Er erinnerte sich an Akzus Warnung. Es ist zu gefährlich für dich, hatte der Kasache zu seiner Nichte gesagt, als Jakli im Gebirge zu ihnen stieß.
    Die junge Frau nickte und schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Doch so weit wird es nicht kommen. Nikki wird mich beschützen.«
    »Nikki. Er ist Marcos Sohn.«
    Jakli nickte abermals und sah Shan an. Auf einmal lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht, obwohl ihre Augen weiterhin feucht schimmerten. Die Strähne rutschte wieder zurück.
    Jakli wickelte sie sich um den Finger und sah dabei schüchtern wie ein kleines Mädchen aus. »Wir werden heiraten beim nadam, dem Reiterfest.«
    Shan wandte verlegen den Blick ab. Er wußte nicht, was er sagen sollte, denn für ihn selbst lag der Begriff der Ehe und alles, was damit zusammenhing, inzwischen längst in weiter Ferne. Schweigend richtete er seine Augen wieder auf Jakli.
    »Aber Nikki ist weg«, sagte er schließlich.
    »Auf der anderen Seite der Grenze. Ein letztes Mal.«
    Shan nickte. Der Sohn des Schmugglers Marco war selbst ein Schmuggler. »Und Lau wußte von eurer Heirat.«
    Jakli nickte und spielte noch immer an ihrem Haar herum. »Sie hat sich sehr gefreut, als ich ihr davon erzählt habe. Nikki war stets einer ihrer Lieblinge.« Sie sah wieder in die Flamme.
    Jakli würde einen jungen eluosi heiraten, einen Tiger, für den sie ins Gefängnis gegangen war. Shan betrachtete sie. Je länger sie dort saß und auf die Lampe starrte, desto verängstigter wirkte sie.
    Shan sah sich ein weiteres Mal in der Kammer um. Lau hatte allein dort im flackernden Licht gelegen, als Nikki ihre Leiche fand. »Wer hat sich an jenem Abend in Karatschuk aufgehalten?« fragte er und musterte den befleckten Buddha. Langsam ging er an der Wand entlang und fühlte sich im einen Moment von der schlichten Schönheit des alten Gemäldes erwärmt, um dann wieder zu frösteln, als er an Laus gewaltsames Ende dachte. Sie ist von einer vertrauenswürdigen Person zur anderen gezogen, wie von einer Oase zur nächsten, hatte Wangtu gesagt.
    Jakli seufzte. »Marco war hier, außerdem Nikki und Osman. Dann noch einige andere, die im Wirtshaus getrunken haben. Auf dem Weg in die Eishöhle haben wir uns all diese naheliegenden Fragen auch schon gestellt. Stundenlang haben wir darüber geredet. Es waren keine Fremden hier. Es wurde nicht mal ein fremdes Pferd oder Kamel gesichtet. Ein Fahrzeug hätte man gehört. Osman sagte, es seien die Gespenster gewesen. Alle haben gelacht, aber er hat es nicht als Scherz gemeint.«
    »Trotzdem könnte ein Pferd hergekommen sein«, wandte Shan ein. »Vielleicht wurde es jenseits der Mauer zurückgelassen und blieb deshalb unbemerkt. Oder der Mörder hat sein Tier auf der anderen Seite dieses Felsvorsprungs angebunden und ist hier hinaufgeklettert, ohne die alte Stadt überhaupt zu betreten.«
    Sie nickte langsam. »Lau ist selbst hergeritten. Sie haben Marco ja gehört. Ihr Pferd war völlig erschöpft, weil sie es sehr eilig hatte, die Wüste zu durchqueren.«
    »Wollte sie hier unbedingt jemanden erreichen?« Er blieb neben dem Tisch stehen und schaute ein weiteres Mal in die Kiste mit den religiösen Artefakten. Irgend etwas glitzerte dort im Licht. Er griff am Rand der Kiste hinein und zog einen langen zylindrischen Gegenstand daraus hervor, an dem sich eine Nadel befand. Eine Einwegspritze.
    »Nein«, erwiderte Jakli leise. Sie sah ihn durchdringend und ängstlich an. Die Spritze war ihr nicht entgangen. »Niemand wußte, daß sie hier war.«
    »Der Mörder wußte es.« Lau war vor jemandem geflohen, dachte Shan. Sie hoffte, in Karatschuk sicher zu sein. Er drehte sich zu der Statue um. Im trüben Licht sah es so aus, als wäre der Buddha angeschossen worden und hätte sein Herzblut auf den Boden vergossen.
    Shan starrte die Spritze an und ließ sie dann plötzlich los, als könnte sie ihn aus eigenem Antrieb verletzen. Sie fiel hinab ins Dunkel, und er verharrte und musterte seine leere Hand. Dann schritt er erneut in der Kammer auf und ab, betrachtete abermals das alte Gemälde und spürte Laus Aura nach. Ein alter Mönch hatte ihm einst erzählt, daß beim schmerzhaften Tod eines Menschen mitunter kleine Stücke von seiner Seele abbrachen und dann ziellos umherwanderten. »Wissen Sie mittlerweile, warum Lau diesen Brief an die Anklägerin geschrieben hat?«

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