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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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stark werden, daß jemand sogar die Nachkommen seiner ehemaligen Feinde ermorden würde?
    Eine Bewegung riß Shan aus seinen Gedanken. Unten hinter dem Kuppelgebäude stahl sich eine dunkle massige Gestalt an der Wand entlang. Sie war kaum heller als die Schatten, durch die sie huschte, verursachte kein Geräusch und wurde von den Tieren im Gehege ignoriert, fast als würden sie sie nicht wahrnehmen. In der Takla Makan gab es Gespenster. Viele Jahrhunderte lang war auch Karatschuk eine Stadt der Gespenster gewesen, hatte Jakli gesagt.
    Das Phantom glitt nun auf die Felsen zu und hielt alle paar Sekunden inne, als würde es horchen oder Ausschau halten. Laus Mörder hatte sich ebenfalls unsichtbar durch die Nacht bewegt. Und Lau war nicht durch ein Gespenst zu Tode gekommen. Vielleicht war das wieder der Täter, dachte Shan. Oder ein Dieb. Aber wer würde es riskieren, Marcos Zorn auf sich herabzubeschwören?
    Mittlerweile befand die Gestalt sich nahe genug an dem Felsen, daß Shan eigentlich ihre Schritte auf dem Schotter hätte hören müssen, aber da war kein Geräusch außer dem Zirpen, der Grillen. Plötzlich ließ der Unbekannte sich auf alle viere nieder, kam noch näher an den Vorsprung heran und verkürzte damit den Abstand zu Shan auf ungefähr fünfzehn Meter. Dann flammte dort unten ein helles Licht auf, gefolgt von einem freudigen Schrei. Das Licht ging sofort wieder aus, und die graue Gestalt huschte zurück zu den Gebäuden.
    Shan stand auf, rannte den Pfad hinunter, sprang auf den Sand und lief in den Schatten hinter Osmans Gaststube. Er sah gerade noch, wie das Phantom hinter einer Hütte auf der anderen Seite des Geheges verschwand.
    Als Shan sich näherte, trabten die Pferde von ihm weg. Die erste Gestalt hatte ihnen keine Angst eingejagt. Das große Kamel, das im Mondlicht so silbrig glänzte, als wäre es selbst ein Gespenst, stieß ein Geräusch aus, das als Schnauben begann und in einem tiefen, kehligen Knurren endete, als hätte es sich zunächst erschrocken, um dann lediglich verärgert über die Störung zu sein.
    Die Hütte hatte kein Fenster. Als Shan näher kam, sah er, daß die Brettertür einige Zentimeter offen stand. Vorsichtig öffnete er sie ein weiteres Stück. Innen am Türrahmen hing ein dicker Teppich herab, hinter dem anscheinend ein trübes Licht brannte. Shan schlich hinein und entdeckte zu seiner Überraschung, daß man nur einen Meter hinter dem Eingang eine geschickt eingepaßte Holzwand errichtet hatte. Eine schmale Tür in dieser Wand, an der sich außen die Öse für ein Vorhängeschloß befand, stand gerade weit genug offen, um an ihrer Kante den hellen weißen Lichtstrahl einer Glühbirne entweichen zu lassen.
    Reglos wartete Shan einige Minuten ab und drückte dann mit einem Finger gegen die Tür. Sie schwang ein paar Zentimeter nach innen, so daß Shan einen einfachen Brettertisch erkennen konnte, auf dem sich Bücher stapelten.
    »Es ist offen«, sagte jemand auf mandarin.
    Shan schob die Tür endgültig auf und trat ein. An einer Werkbank stand im Licht einer nackten Glühbirne der Amerikaner Deacon und betrachtete etwas unter einer großen Lupe, deren Schwenkarm mit einer Klemmschraube an der Tischplatte befestigt war. Ohne sich umzudrehen, deutete er auf eine Flasche, die auf dem Tisch stand. »Da ist der Wodka. Bedien dich ruhig.«
    Shan sah sich schweigend um. Das Kabel an der Fassung der Glühbirne verlief in die Zimmerecke, wo in einer Holzkiste eine Reihe leistungsstarker Batterien stand. Die Umschläge der Bücher trugen englische, deutsche und chinesische Titel. Es schien sich um anthropologische und archäologische Fachtexte zu handeln. Ein besonders dicker Band lag aufgeschlagen am hinteren Ende des Tisches und entstammte offenbar einem anderen Themengebiet, denn auf den von einer dicken Metallfeder gespreizten Seiten war das Schaubild eines menschlichen Skeletts zu erkennen. Neben dem Amerikaner stand ein aufgeklappter Laptop.
    »Falls du wählerisch geworden bist, findest du in dem Regal über der Tür ein sauberes Glas«, sagte Deacon und warf einen Blick über die Schulter. Er hielt kurz inne, zog eine Augenbraue hoch und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. »Ach, Sie sind das«, sagte er gelassen. »Ich hab mit einem Russen gerechnet.«
    Shan erwiderte zunächst nichts darauf, denn unmittelbar nachdem Deacon sich umgedreht hatte, war ihm ein Regal über der Werkbank des Amerikaners aufgefallen. Darauf stand ein halbes Dutzend kleiner Käfige,

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