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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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fragte er.
    »Sie hat es nicht so gemeint«, sagte Jakli.
    »Doch. Sie hat es so gemeint. Ich glaube, ich verstehe es jetzt. Es war als Zuwendung gedacht, so wie sie Wangtu schützen wollte, indem sie ihm keinen Tee mehr mitbrachte.
    Sie hat sich um Sie gesorgt. Drei Schüsseln im lao jiao. Kurz vor der Hochzeit. Sie wollte sicherstellen, daß Sie behütet waren, und zwar durch die Bewährungsstrafe, damit man Sie nicht ein weiteres Mal verhaften würde. Es ist ihr bestimmt schwergefallen, aber sie hat es Ihnen zuliebe getan. Für Ihre Sicherheit hätte sie sehr viel geopfert, notfalls auch Ihre Zuneigung.« Und dennoch verstieß Jakli leichtfertig gegen alle Auflagen, als sei es ihr gleichgültig oder als könne die Anklägerin ihr nichts anhaben. Shan sah sie an. Sie biß sich auf die Unterlippe, hatte wieder Tränen auf den Wangen und starrte in die Lampe. Er seufzte und ging.
    Als Shan die Höhle verließ, waren die letzten Sonnenstrahlen verschwunden, doch der Himmel leuchtete vor funkelnden Sternen und einem aufgehenden Zweidrittelmond. Es wehte ein eisiger Wind jener Sorte, die manche Mönche als seelenerweckend bezeichneten, weil der Geist dadurch umgehend wach und aufmerksam wurde. Weit draußen in der Wüste heulte ein Tier, und irgendwo in der Nähe zirpte eine Grille.
    Shan kehrte an seinen Platz auf halber Höhe der Felsformation zurück und stellte den Kragen seiner Jacke auf, um sich vor der Kälte zu schützen. Unten regte sich nichts, kein Lebenszeichen war zu entdecken, abgesehen von schwachen Lichtflecken in einem halben Dutzend Fenstern, die mit dünnem Stoff verhängt waren. Geistesabwesend fuhr Shan mit den Fingern durch den weißen Sand neben seinem Bein. Gern wäre er wieder wie beim erstenmal in einen traumähnlichen Zustand gesunken, aber das Bild der toten Lau in den Armen des Buddhas hatte sich ihm zu tief eingebrannt. Seine Hand hinterließ zufällige Muster in dem kühlen, vom Mond beschienenen Sand. Dann hielt er inne, strich die Oberfläche glatt und zeichnete ein zweiteiliges Ideogramm. Die obere Hälfte bestand aus einem kleinen Kreuz, dessen Enden sich nach rechts bogen und dann mit langem Strich nach links ausliefen. Es sollte ein hohes ödes Plateau symbolisieren und bedeutete große Leere. Der untere Teil zeigte zwei Y-Formen auf einer gewölbten Linie, zwei Menschen, die Rücken an Rücken auf einem Hügel standen. Das Ideogramm bedeutete Offenheit und war das Zeichen, das sein Vater stets für Kapitel elf des Taoteking benutzt hatte. Nutze, was nicht da ist, wurde es genannt:
    Dreißig Speichen laufen in einer Nabe zusammen; was nicht da ist, macht das Rad nutzbar.
    Ton wird zu einem Topf geformt; was nicht da ist, macht den Topf nutzbar.
    Türen und Fenster werden in Wände geschnitten; was nicht da ist, macht den Raum nutzbar.
    Er formte die Worte stumm mit den Lippen und hörte dann die letzten beiden Zeilen dermaßen deutlich in seinem Kopf, als würde einer der taoistischen Priester seiner Kindheit neben ihm sitzen und sie ihm vorlesen:
    Mach dir zu eigen, was da ist, indem du nutzt, was nicht da ist.
    Nicht da, so wußte Shan, war bislang das Motiv, das Lau zum Ritt nach Karatschuk veranlaßt hatte, wo die Schmuggler sich versteckten und der Amerikaner wartete. Dasselbe Motiv hatte den Mörder von Lau zu dem Jungen Suwan beim Clan des Roten Steins und dann zu Alta ins Hochgebirge geführt. Wohin dann? Zurück nach Karatschuk? Falls es lediglich darum ging, heimliche Buddhisten ausfindig zu machen, suchte der Mörder unterdessen vielleicht nach dem Wasserhüter. Falls es darum ging, bestimmte Kinder aufzuspüren und zu ermorden, war die zheli die wichtigste Verbindung, entlang derer der Mörder sich bewegte und sie im gleichen Zug zerstörte. Akzu hatte die Möglichkeit einer offenen Rechnung angedeutet. Die Clans eines oder mehrerer Kinder der zheli waren eventuell schon vor vielen Jahren attackiert worden, und womöglich war der Mörder wiederaufgetaucht, wie aus einem langen Winterschlaf, um sich die letzten Überlebenden vorzunehmen. Manche kasachischen und uigurischen Clans hatten früher gegen die Soldaten gekämpft und waren vernichtet oder zur Strafe aufgelöst worden. Doch zuvor hatten sie der Armee empfindliche Verluste zugefügt und vielleicht irgendwo einen schwelenden Wunsch nach Rache entfacht, der jetzt erst offen ausbrach. Lau hatte während jener schrecklichen Jahre unter Umständen schon gelebt, aber nicht die zheli . Konnte der Durst nach Vergeltung so

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