Das Auge von Tibet
die alle unterschiedlich geformt, doch stets aus kunstvoll bearbeitetem Holz gefertigt waren. Sie schimmerten mit einer gewissen Patina, die ihr großes Alter verriet. Das größte Exemplar war ungefähr fünfzehn Zentimeter tief und jeweils zehn Zentimeter hoch und breit. Es bestand aus dünnen Sandelholzstäben. Für den kleinsten Käfig schien man das Holz eines Obstbaums verwendet zu haben, und zwar ein einzelnes, massives Stück, das man ausgehöhlt und zu einem kleinen Tempel geschnitzt hatte.
Vor allem eine bestimmte Folge des Gulags war Shan immer besonders grausam vorgekommen: der Verlust seiner Erinnerungen. Die Schmerzen der vielen Verhöre, der Stockschläge, Drogen und elektrischen Viehtreiber hatten sein Gedächtnis getrübt, als wären gewisse Teile seines Gehirns unerreichbar geworden. Das gehörte zum Gesamtplan der Partei, hatte einer seiner Zellengenossen gesagt. Man peinigte das Gehirn so lange, bis es sich nicht mehr an bessere Zeiten erinnern konnte. Doch beim Anblick der Käfige hatte sich irgendwo in Shans Hinterkopf etwas geregt.
Mindestens drei der kleinen Behälter schienen Bewohner zu haben.
Deacon hatte Shans Interesse bemerkt. »Marco lacht mich aus, aber ich behaupte, jede anständige Stadt braucht ein eigenes Orchester.«
»Sie sind draußen gewesen, um Sänger zu sammeln«, sagte Shan, dem auf einmal alles klar wurde.
Deacon schaute zu den Käfigen und lächelte zufrieden. »Endlich habe ich ihn erwischt. Wir nennen ihn Altes Eisenbein, weil sein Lied irgendwie kratzend klingt, als wären seine Beine aus Metall.« Er drehte sich wieder zu Shan. »Kennen Sie sich mit Grillen aus?« fragte er auf englisch.
Shan sah den Amerikaner wortlos an, und allmählich erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Was für eine wunderbare Frage. »Als ich noch klein war, ist mein Vater mit mir gelegentlich zu einem alten taoistischen Priester gegangen, der sich in die Berge zurückgezogen hatte, um den schlimmen Zuständen in den großen Städten zu entfliehen.« Shan war ganz ergriffen, daß diese Erinnerung nach so vielen Jahren wieder ans Licht gekommen war und er sie in Worte fassen konnte. »Er lebte allein und brachte den größten Teil seiner Zeit damit zu, Körbe zu flechten und über den taoistischen Schriften zu meditieren. Ansonsten weiß ich nur noch, daß er sich Grillen gehalten hat. Er hat mir viel darüber erzählt.« Wie erstaunlich, dachte Shan, daß er sich hier in der Wüste bei einem seltsamen Amerikaner befand, eigentlich nach einem Mörder suchte und auf einmal erlebte, wie sich eine der dunkelsten Türen seiner Erinnerung öffnete.
Deacon lächelte. »Bei meiner ersten Reise nach China bin ich auf einem Markt gewesen und habe dort einen Mann gesehen, der Insektensänger verkauft hat. Er hatte ungefähr fünfzehn verschiedene Arten. Eine Pferdeglocke. Einen Springhahn, mit den langen Fühlern. Ein paar schwarze, die Tintenglocken heißen. Und eine Weberdame.«
Beim Klang dieser Namen, die er zum erstenmal vor Jahrzehnten gemeinsam mit seinem Vater gehört hatte, breitete sich irgendwo tief in Shans Innern ein warmes Gefühl aus. »Ich weiß noch, daß eine Sorte cao zhong hieß«, sagte er. Die Worte kamen ihm völlig unvermutet in den Sinn, wurden wie von einer Woge an die Oberfläche seines Bewußtseins gespült. »Wunderschöne Exemplare mit lautem, aber völlig reinem Ton. Den englischen Namen dafür kenne ich leider nicht.«
»Grashüpfer«, sagte Deacon. »O Mann, wie gern hätte ich einen Grashüpfer. Aber dafür ist es hier zu trocken.« Voller Freude betrachtete der Amerikaner seine Sammlung. »Damals bin ich zwei Stunden bei diesem Straßenhändler sitzen geblieben und habe mir erklären lassen, daß jede Art ihren ganz eigentümlichen Gesang hat, der sich zudem durch die Wahl des Futters beeinflussen läßt, und daß die Kaiser für ihre Lieblings grillen sogar winzige Möbelstücke anfertigen ließen. Bei meiner nächsten Reise habe ich meinen Sohn Micah auf diesen Markt mitgenommen. Micah hat lediglich gelächelt, und zwar das breiteste, hübscheste Lächeln, das ich je bei ihm gesehen habe. Wir waren beide fasziniert.« Stolz wies Deacon auf die Käfige. »Der Verkäufer hat uns erzählt, die Tiere seien Glücksbringer.«
Shan nickte. »Weil ihr Gesang so lebendig und fröhlich ist. Der alte Priester hat es lebende Musik genannt. Man kann nämlich keinen Einfluß darauf nehmen. Wenn eine Grille beschließt, dein Heim mit ihrer lebenden Musik zu erfüllen,
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