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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hat die Natur dich wahrhaftig gesegnet. Eine der Arten hat er Blauglocke genannt, eine andere Buntspiegel.« Die Worte sprudelten Shan über die Lippen, als habe er Angst, sie wieder zu vergessen. »Und dann war da noch eine Bambusglocke.«
    »Mit Eisenbein ist mein Chor komplett. Er ist ein Nachtwächter. Pang t'ou nennen sie es. Zirpen des Wächters. Bald ist wieder Vollmond. Um Mitternacht werden mein Sohn und ich die Tiere hinaus in die Dunkelheit tragen und ihrem Chor zuhören. Und wir werden nach Sternschnuppen Ausschau halten. Einer der alten Kasachen hat meinem Sohn nämlich erzählt, daß manche Grillen Sternschnuppen herbeirufen können.«
    »Ihr Sohn ist hier?« fragte Shan.
    »Nicht hier, aber in Xinjiang.«
    Einen qualvollen Moment lang überkam Shan eine schreckliche Befürchtung. Nein. Deacon war nicht alt genug, um der Vater des toten Amerikaners im Lager Volksruhm zu sein. »Wie alt ist er?«
    »Zehn.« Der Amerikaner schob die Lupe beiseite und sah wieder die Käfige an. »Wenn man sie nicht getrennt hält, gehen sie aufeinander los«, sagte er, als wolle er sich lieber nicht weiter über seinen Jungen unterhalten.
    »Der alte Priester hatte eine ganze Menge solcher Käfige«, erinnerte Shan sich. »Einige andere waren aus Kürbissen gefertigt, und wiederum andere hat er aus Bambusspänen und Schilfrohr hergestellt.«
    »Diese alten Käfige sind ziemlich selten. Was ist aus seinen geworden?«
    Shan lächelte traurig, als auch dieser Teil der Erinnerung an die Oberfläche kam. Eines Tages hatte sein Vater ihn über Nacht bei dem alten Priester gelassen, und sie waren aufgeblieben, um bis in die frühen Morgenstunden dem Gesang der Grillen zu lauschen. »Zu den wenigen Leuten, die von ihm wußten, gehörte auch ein Hirtenjunge, der ihm an Festtagen häufig Reiskuchen brachte. Aber der Junge trat den Roten Garden bei und mußte eine gewisse Anzahl von verhafteten Reaktionären vorweisen können.«
    »O mein Gott«, murmelte Deacon, als käme ihm die Geschichte bekannt vor.
    »Irgendwann kam der Junge zu dem alten Mann und teilte ihm mit, daß er seinem Zugführer über ihn Bericht erstatten und man ihn daraufhin am nächsten Tag abholen würde.«
    »Herrje. Wie hat der alte Mann darauf reagiert?«
    »Er hat dem Jungen für den erwiesenen Respekt gedankt«, sagte Shan seufzend. »An jenem Abend hat er all seine Sänger freigelassen. Die Käfige stammten aus dem China der Kaiserzeit, und er wußte, daß die Garden sie ohnehin zerstören würden, also hat er bis zum Mondaufgang gewartet und die Käfige selbst verbrannt. Ich weiß es, weil meine Schulklasse dem Prozeß beiwohnen mußte. Die Garden waren wütend, weil er sich weigerte, dem Taoismus abzuschwören, und statt dessen mit heiterer Stimme nur über diesen einen perfekten Moment sprach, als die Grillen bei ihm blieben, das Feuer beobachteten und derweil ihr allerschönstes Lied sangen, während die Käfige verbrannten. Dann mußten wir den Gerichtssaal verlassen, weil der alte Mann sich nicht an den vorgeschriebenen Ablauf hielt.« Shan erinnerte sich auch an ein späteres Verfahren, als den Roten Garden schön langsam die geeigneten Opfer ausgingen. Man hatte einen Grillenhändler verhaftet und die Insekten angeklagt, an der reaktionären Tradition mitgewirkt zu haben. Am Ende wurde die Tiere auf kleine Spieße gesteckt und geröstet, und der Mann mußte sie aufessen.
    Aus dem Computer erklang ein Piepton, und der Bildschirm schaltete sich aus. Deacon trat an die Werkbank und klappte das Gerät zu.
    »Ich wußte gar nicht, daß es in Karatschuk Strom gibt«, sagte Shan. »In Osmans Wirtshaus habe ich nichts dergleichen bemerkt.«
    »Den gibt's auch nur hier. Eine tragbare Solarzellenanlage. Damit lassen sich die Batterien für ungefähr vier oder fünf Stunden Nutzung aufladen.«
    Solarzellen und Grillen. Ein Computer in einer alten Hütte an der Seidenstraße. Ein Amerikaner, der sich in einer chinesischen Wüste verbarg und Wodka mit einem Nachfahren russischer Emigranten trank. Jakli hatte ihn in eine andere Welt gebracht -oder gleich in mehrere andere Welten, von denen keine mit Lau, Gendun oder den toten Jungen in Verbindung zu stehen schien.
    Shan konnte nun mehr von der Werkbank erkennen, an der Deacon gearbeitet hatte. Unter der Lupe lag ein Stück Stoff, ein altes verblichenes Gewebe mit einem gekreuzten Schraffurmuster aus braunen, gelben und roten Fäden. Deacon trat vor und versperrte Shan die Sicht auf den Tisch.
    »Weshalb sind Sie

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