Das Auge von Tibet
verhängen.« Aus dem Mund des Kasachen klang dieser Satz wie ein Todesurteil.
Dann wandte Akzu sich an Shan und den Amerikaner, als brauchten sie eine genauere Erklärung. »Es wird Verhaftungen geben, jede Menge Verhaftungen. Die Soldaten werden jeden Winkel durchsuchen. Alle müssen fliehen. Man wird uns unsere Familien nehmen.«
Kapitel 8
Im Licht des frühen Morgens sah es so aus, als hätten die steinernen Wächter von Karatschuk sich kampfbereit geduckt, um einem nahenden Feind zu begegnen. Und tatsächlich schienen Akzus Neuigkeiten bei den meisten der Stadtbewohner zu einer Veränderung geführt zu haben. Statt bunter Kleidung, wie sie Shan noch am Vortag aufgefallen war, trugen die Männer jetzt Braun- und Grautöne, die mit der Wüste verschmolzen. An vielen Gürteln hingen lange Messer, und zu Shans großem Unbehagen trugen manche der Kasachen Gewehre auf dem Rücken.
Er fand Akzu und Osman bei dem Gehege. Die beiden waren in ein leises, hektisches Gespräch vertieft.
»Wo wurde Sui getötet?« fragte Shan. »So etwas passiert doch üblicherweise in den Städten, und dann würden die Hirten wohl kaum zu den Verdächtigen zählen.«
»An der Fernstraße nach Kashi, dreißig Kilometer hinter Yutian.« Akzu seufzte. »Dort leben nur kasachische und uigurische Nomaden. Du weißt, was die Kriecher tun werden. Sie werden die Lager nach politisch unerwünschten Elementen durchsuchen. Man wird Ausgangssperren befehlen. Als vor vier Jahren ein Sergeant der Armee ums Leben kam, bedeutete das sechs Monate Kriegsrecht. Verdächtige wurden direkt in die Kohlengruben geschickt und ihre Familien ins Lager Volksruhm. Die Dummköpfe, die diese Tat begangen haben, ahnen ja nicht, wieviel Leid das nach sich ziehen wird.«
»Welche Dummköpfe?« fragte Shan. »Kennen Sie die Täter?«
Akzu sah in Richtung der Berge. »Malik ist noch immer dort draußen. Er hat einen der Jungen zu uns gebracht und ist wieder aufgebrochen. Jetzt sind auch meine Söhne unterwegs, um so viele Kinder der zheli einzusammeln, wie sich noch finden lassen.« Er drehte sich zu Shan, als hätte er erst jetzt dessen Frage registriert, und zuckte die Achseln. »Die Maos. Das ist ihre Handschrift. Auch vor vier Jahren waren sie dafür verantwortlich. Die Hitzköpfe unter ihnen. Manche der Männer denken, Veränderungen ließen sich von einem Tag auf den anderen bewirken.«
»Denken?« rief eine laute Stimme hinter Shan. »Sie denken nicht. Sie sind bloß arrogante Schmarotzer und bisweilen genauso schlimm wie die Kriecher. Sie treffen auf ein leichtes Opfer und peng! Sie handeln völlig impulsiv und ziehen dann weiter.« Im Gegensatz zu den anderen schien Marco keine Angst zu haben. Er wirkte lediglich wütend. »Diese Schwachköpfe! Wie können sie es nur wagen, uns so etwas anzutun?«
Natürlich würde der Mord einen erhöhten Druck seitens der Öffentlichen Sicherheit bewirken. Doch Marcos Zorn war irgendwie konkreter, als störe der Zwischenfall bei der Durchführung eines bestimmten Vorhabens.
Dann schaute der eluosi in Richtung des Felsvorsprungs und beruhigte sich wieder. Nur noch sein keuchender Atem durchdrang die Stille. Shan folgte seinem Blick bis zum Gipfelplateau. Dort saß Jakli, hatte die Arme um die Knie geschlungen und beobachtete den westlichen Horizont.
»Oje!« sagte Marco. Er klang plötzlich ganz sanft und schmerzlich berührt.
»Hat sie Angst um... um Ihren Sohn?« fragte Shan.
»Nein, nein«, brummte Marco. »Nikki geht es gut. Nikki ist unbesiegbar.« Er trat gegen die Mauer des Geheges. Ein Stück des alten Mörtels bröckelte ab.
»Es geht um etwas anderes«, erklärte Osman. »Falls die Kriecher mobilmachen, werden sie alle politisch auffälligen Personen überprüfen. Jakli müßte eigentlich bei ihrer Fabrikarbeit in der Stadt sein. Ihre Abwesenheit stellt einen Verstoß gegen die Bewährungsauflagen dar. Ihre Freunde decken sie, weil sie wissen, daß es um Tante Lau geht. Alle haben Tante Lau gemocht. Normalerweise würden die Kriecher sich nicht um diese Fabrik kümmern. Aber nach Suis Tod werden sie zwangsläufig überall herumschnüffeln. Und wenn die Kriecher nach Jakli suchen, kann niemand sie mehr decken. Falls man sie verhaftet«, sagte er und wandte sich in Richtung der fernen Berge, »wird sie nicht beim Reiterfest sein. Sie wird auch nicht heiraten. Statt dessen wird man sie in eine der Kohlengruben bringen. Ich war einmal dort und habe mit einigen Maos Nahrungsmittel angeliefert. Hammer und
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