Das Auge von Tibet
hier, Mr. Deacon?« fragte Shan.
»Deacon. Einfach Deacon. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich sammle Grillen.«
»Ich meine, hier in Karatschuk. In der Takla Makan. In Xinjiang.«
Deacon lächelte matt und schaute zu seinen Grillen. »Vielleicht weil mein Junge sich auf dem Markt so gefreut hat. Bei uns zu Hause ist es schwer, auf einen grünen Zweig zu kommen.« Er sah Shan an. »Oder vielleicht aus demselben Grund wie Marco, Osman, Jakli und Nikki.«
»Um sich zu verstecken?«
Der Amerikaner schüttelte ernst den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Wir sind hergekommen, um uns nicht mehr zu verstecken. Hier kann niemand sich verstecken.«
»Wir?« fragte Shan. »Sie und Ihr Sohn?«
Deacon runzelte die Stirn. »Meine Frau und ich.«
»Ich dachte, Karatschuk sei als Versteck gedacht. Schmuggler. Ausgestoßene. Sie kommen her, um sich zu verbergen.«
»Dann haben Sie es nicht verstanden. Ich bin überall schon gewesen, auf jedem Kontinent, sogar in der Antarktis. Doch nirgendwo habe ich einen Ort wie diesen gefunden, wo man absolut verantwortlich für sich selbst ist. Keine Polizei. Keine Soldaten. Keine gottverdammte Regierung, die dir vorschreibt, was du zu denken hast, oder die es den Leuten leichtmacht, überhaupt nicht zu denken. Hier mußt du jemand sein. Du mußt vertrauen, und dir muß vertraut werden.«
Shan trat näher an Deacons Arbeitstisch. Deacon stellte sich ihm abermals in den Weg. »Du mußt vertrauen«, wiederholte Shan die Worte des Amerikaners.
Deacon legte die Stirn in Falten. »Sie haben noch nicht erzählt, was aus diesem alten Priester mit den Grillen geworden ist.«
Shan blickte erneut zu den Käfigen. »Am Ende des Prozesses haben sie ihn verprügelt. Dann haben sie andere Priester gezwungen, auf ihn einzuschlagen. Er ist daran gestorben, und seine Leiche wurde verbrannt, alles noch an demselben Tag, an dem man ihn von dem Berg geholt hatte.« Shan seufzte und sah wieder zu den Grillenkäfigen. »Hinterher hat mein Vater etwas von der Asche des Feuers geborgen, und dann sind wir beide zu der Behausung des Priesters zurückgekehrt. Dort haben wir für die Asche einen geheimen Schrein errichtet. Als wir bei Einbruch der Dunkelheit wieder gegangen sind, haben die Grillen für ihn gesungen.«
Der Amerikaner hielt Shan nicht länger zurück.
Deacon hatte tatsächlich ein altes, dicht gewebtes und rötlichbraun gefärbtes Stück Stoff untersucht. Es war um einen länglichen Gegenstand gewickelt und an einem Ende mit Segeltuch abgedeckt. Rechts davon stand ein kleines Mikroskop.
»In den Lehrbüchern steht, man könne nur weiße Wolle färben, die kein natürliches Pigment enthält«, sagte Deacon über Shans Schulter hinweg. »Aber in der Takla Makan hat man diese Bücher offenbar nie gelesen. Das hier ist Wolle von einem braunen Schaf, deren überwiegender Anteil mit einem purpurroten Farbstoff behandelt wurde, und zwar mit Hilfe eines Verfahrens, das wir noch nicht kennen.« Deacon zeigte auf das gekreuzte Schraffurmuster. »Hier hat man unbehandelte und rot gefärbte weiße Wolle eingewoben.«
Shan sah ihn verwirrt an. Der Amerikaner hatte doch wohl kaum die halbe Welt durchquert, um hier im verborgenen die Geheimnisse der Textilproduktion zu ergründen.
Draußen wurden auf einmal Stimmen laut. Viele Stimmen, ein aufgeregtes Durcheinander aus schnellen Schritten und hektischen Rufen. Jemand schrie nach Marco. Deacon sah zur Tür, schien Shan aber nur ungern allein zurücklassen zu wollen.
Dann rief jemand den Namen des Amerikaners. Die Tür schwang auf, aber niemand trat ein. Deacon machte ein paar Schritte in Richtung Ausgang, und Shan zog schnell das Segeltuch von dem Stoff herunter.
Ungläubig starrte er auf seine Entdeckung und mußte gegen eine plötzliche Übelkeit ankämpfen. Der Stoff war einst ein Hosenbein gewesen. Ein menschlicher Fuß ragte daraus hervor, klein und eingeschrumpft, aber unverkennbar ein Fuß.
»Verdammt«, murmelte der Amerikaner und schaute von Shan wieder zur Tür.
Jemand rief erneut, und dann erschien Marcos riesige Gestalt in dem Durchgang. Er bedeutete ihnen, nach draußen zu kommen, und als er zurückwich, erkannte Shan hinter ihm Akzu, der sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte. Jakli kam angerannt. Sie hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt.
»Ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit wurde ermordet«, keuchte Akzu. »Leutnant Sui. In ein paar Stunden wird der ganze Bezirk voller Kriecher sein. Sie werden das Kriegsrecht
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