Das Auge von Tibet
Meißel, mehr bekommen sie nicht. Keine Handschuhe. Keinerlei Geräte. Nie genug zu essen. Ich habe Häftlinge gesehen, deren Hände nur noch Haut und Knochen waren, wie bei Skeletten.« Er sah wieder zu Jakli. »So jung«, flüsterte er, »so voller Leben. Nach ein paar Monaten in einer Kohlengrube wird sie alt und leer sein.«
Das silberweiße Kamel in dem Pferch stieß ein wieherndes Geräusch aus. Shan ging zur Ecke des Geheges und sah, daß Osman zwei Pferde hinter die nächste Hütte führte, eines gesattelt, das andere unter einer Segeltuchplane schwer mit mehreren Kisten beladen. Wo wollte er hin? Seine Familie warnen? Einen selbstmörderischen Vorstoß über die Grenze wagen? Shan musterte die anderen, die inzwischen fast alle auf ihren Reittieren saßen. Sie sahen eher wie ein Stoßtrupp als wie eine Flüchtlingsgruppe aus.
Eine Bö aus dem Osten trug ein Geräusch an seine Ohren. Er drehte sich um und sah, daß Jakli nun stand und jemandem zuwinkte. Es war ein Reiter, der in flottem Trab auf den Norden der Stadt zuhielt, hinter dem das Herz der endlosen Wüste lag. Aus den Augenwinkeln nahm Shan eine Bewegung wahr. Osman erschien und nickte Marco zu. Shan blickte wieder dem Reiter hinterher. Es war Deacon. Der Amerikaner trabte allein in die Wüste, begleitet nur von dem Packpferd.
Eilig ging Shan zu der Hütte des Amerikaners. Zwei Männer standen davor und schaufelten soeben Sand auf eine Barriere aus sonnengebleichten Brettern, die an der vorderen Wand lehnte und den Eingang verdeckte, der mittlerweile durch einen schweren, wie zufällig vom Dach gestürzten Balken blockiert wurde. Man machte aus der Hütte wieder eine Ruine.
Shan umrundete das Gebäude. Es gab keine weitere Öffnung in der Mauer, abgesehen von einem kleinen Spalt in Bodenhöhe, wo vermutlich die Zuleitung der Solarzellen zu den Batterien verlaufen war. Noch während Shan die Ritze beäugte, schaufelte einer der Männer Sand darauf und ließ sie verschwinden. Nein, hätte Shan fast protestiert, da drinnen sind Sänger. Das Alte Eisenbein muß gefüttert werden. Aber im selben Moment wußte er instinktiv, daß Deacon die Grillen mitgenommen hatte. Obwohl Shan nur wenige Minuten bei ihm gewesen war, hatte er deutlich gespürt, daß der Amerikaner kaum etwas so wichtig nahm wie die Verabredung mit seinem Sohn Micah, gemeinsam bei Vollmond ihren Sängern zu lauschen.
Doch war der andere Gegenstand noch da? Das Anhängsel, das menschliche Bein. Was hatte Deacon damit gemacht? Es seziert? Sich an dem Anblick geweidet? Von wem stammte das Bein? Shan begriff, daß es womöglich gar nicht so alt war, wie es anfangs zu sein schien. Sie befanden sich in der Wüste, wo alles beinahe über Nacht austrocknete. Vielleicht war der Betreffende erst kürzlich verstorben. Vielleicht stellte auch Deacon Nachforschungen an. Dann erst fielen ihm Bajys' Worte wieder ein, die Beschreibung der verzweifelten Suche in Karatschuk. Er hatte Leichenteile gefunden, wie auf den Gemälden, die Dämonen zeigten.
Shan sah, daß auch die anderen Hütten der Senke unter Einsatz von Sand und alten Balken wieder in vermeintliche Ruinen verwandelt worden waren und sich nun überhaupt nicht mehr vom restlichen Karatschuk abhoben. Während er die Evakuierung verfolgte, überkam ihn wieder tiefe Traurigkeit. Der Gedanke, in einer anderen Welt gelandet zu sein, war natürlich ein Irrtum gewesen. Das hier war nach wie vor dieselbe Welt, die Welt der Kriecher und blutbefleckten Buddhas.
Er verspürte ein Gefühl des Verlusts und der Niederlage. Suis Ermordung bedeutete, daß Shan auch den letzten Rest seiner Bewegungsfreiheit einbüßte. Jedermann, einschließlich des Mörders, würde sich irgendwo verkriechen und möglichst wochen- oder gar monatelang von der Bildfläche verschwinden.
Als Shan um die Ecke des Kuppelgebäudes kam, stand Marco mit dem silberweißen Kamel vor Osmans Tür. Bis jetzt hatte Shan die Stute noch nicht genauer in Augenschein genommen, doch als er sie nun ansah, erkannte er, daß sie keinem der Tiere glich, die ihm bislang in Xinjiang begegnet waren. Ihre Augen funkelten intelligent, und ihr Fell glänzte. Sie hatte ihm den Kopf zugewandt und erwiderte seinen Blick mit einer gewissen Neugier. Zu seiner Überraschung bemerkte er, daß sie einen kleinen eleganten Silberring im linken Ohr trug.
Marcos Sattel bestand aus einem einfachen bespannten Holzrahmen. Er wuchtete ihn zwischen die Höcker des Tiers, und Shan kam näher. Die Stute neigte den Kopf
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