Das Auge von Tibet
den Landwirtschaftsrat ging. Shan überflog die Seiten und fing dabei hinten bei den am weitesten zurückliegenden Einträgen an. Es handelte sich überwiegend um Standardformulare, die man aufgrund von Gesprächen mit Lau und einem Dutzend ihrer Bekannten ausgefüllt hatte. Die Unterschrift stammte von einem Sachbearbeiter der Öffentlichen Sicherheit, und Anklägerin Xu hatte Kopien der Seiten erhalten. Shan notierte sich den Namen des Mannes auf seinem Block und las dann die Details. Lau hatte angegeben, ihre Eltern zu einer Zeit verloren zu haben, die der Sachbearbeiter als »die der Assimilation vorangegangene Periode gewaltsamer Anarchie« bezeichnete, was Shan als Umschreibung für die Ankunft der chinesischen Armee deutete. Danach hatte man Lau einem Landwirtschaftskollektiv in der kasachischen Nord-Präfektur Ili zugewiesen. Ihre Geburtsurkunde war 1968 während der »Periode der Angleichung« verbrannt, als zahlreiche öffentliche Gebäude in Flammen aufgingen. Als Shan den Begriff las, hielt er inne. Er hatte schon viele Bezeichnungen für die blutigen Jahre der Kulturrevolution gehört, der auch sein Vater und dessen Brüder zum Opfer gefallen waren, aber dieser hier war ihm neu. Periode der Angleichung. Einen Moment lang hatte er ein merkwürdiges Bild vor Augen. Er sah Scharen von brutalen Technikern das Land überschwemmen, die den Menschen die Hinterköpfe öffneten und dort einige Zahnräder auswechselten.
An unteren Rand von Laus Formular standen einige Fragen aufgelistet, hinter denen jeweils Ja oder Nein angekreuzt werden mußte. Hat die Person eine patriotische Dienstzeit in der Volksbefreiungsarmee abgeleistet? Nein. Liest die Person regelmäßig die Publikationen der Kommunistischen Partei, um über den Fortschritt des sozialistischen Gedankens informiert zu bleiben? Ja. Wurde die Person bei der Ausübung von Bräuchen der religiösen Minderheiten beobachtet? Nein. Hat die Person Verwandte, die außerhalb der Volksrepublik leben? Nein. Ermitteln Sie den cheng fen, den Klassenhintergrund der Person. Nicht verifizierbar, obwohl kein Grund zum Zweifel an der Aussage der Befragten besteht, ihre Eltern seien als Landarbeiter tätig gewesen, stand dort. Landarbeiter gehörten der am höchsten geschätzten Klasse an. Lau hatte gewußt, was ihr Publikum hören wollte. Weiter oben in der Akte fand sich ein kurzes, erst drei Monate altes Memo. Es stammte von Anklägerin Xu und war an Leutnant Sui vom Büro für Öffentliche Sicherheit gerichtet:
Ich messe der Tatsache, daß über Genossin Lau keine umfassenden Meldeunterlagen existieren, keine besondere Bedeutung bei. Dieser Umstand ist lediglich der allgemeinen Unordnung zu verdanken, die bis vor einigen Jahren bei den Verwaltungsbehörden Xinjiangs vorgeherrscht hat und unter deren Folgen viele von uns zu leiden haben. Genossin Laus Unterlagen für das letzte Jahrzehnt sind vollständig und wurden auf ihre Richtigkeit kontrolliert. In unzureichend dokumentierten Fällen wie diesem führen wir zumeist eine spezielle Überprüfung der politischen Verläßlichkeit durch, so auch bei Genossin Lau. Weitere Nachforschungen werden gemäß der üblichen Verfahrensweise dieser Behörde erfolgen. Der Vorschlag, Genossin Lau als kulturelle Agitatorin einzustufen, entbehrt jeder Grundlage.
Shan las das Memo zweimal. Die Worte waren eindeutig formuliert, aber viel wichtiger war, was zwischen den Zeilen stand. Sui hatte offenbar Laus Verläßlichkeit angezweifelt, und zwar kurz nachdem Lau von ihrem Posten im Landwirtschaftsrat entbunden worden war. Jemand hatte der Öffentlichen Sicherheit belastende Informationen zugespielt, die zu einer politischen Neueinschätzung Laus und vermutlich einer Einstufung als unerwünschte Person führen sollten, womit sie zwar nicht als Kriminelle, aber als ausreichend verdächtig gegolten hätte, um von jeglicher Vertrauensposition ausgeschlossen zu werden. Und Xu hatte sich entschieden, dieses Vorhaben zu verhindern und Lau zu verteidigen. Die Anklägerin schien keinerlei Verdacht gegen Lau zu hegen. Shan las das Memo ein drittes Mal. Sui schlug vor, Laus politische Gesinnung zu durchleuchten, und Xu sagte nein, als hätte sie mit der heimlichen Nonne bereits etwas anderes vor, bei dem ihr Sui in die Quere kam. Außer für die zehn Jahre, die Lau im Bezirk Yutian gelebt hatte, gab es keine Unterlagen. Die ermordeten Jungen waren ungefähr zehn Jahre alt gewesen. Konnte Laus kompletter Aufenthalt in Yutian von vornherein nur
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