Das Auge von Tibet
jedoch noch intakt und reckten sich grüßend der roten Flagge der Volksrepublik entgegen. Auf dem nächstgelegenen Gemälde krabbelte ein brauner Käfer.
Der Boden des Raumes war von der revolutionären Inbrunst verschont geblieben. Er bestand aus einem alten prächtigen Mosaik, das Szenen mit Pferden, Bergen und Bogenschützen zeigte. Die vereinzelten Risse konnten seiner Schönheit nichts anhaben. Am Fuß der Treppe stand ein Schreibtisch, und hinter dem Schreibtisch ragten zwei Beine hervor. Sie gehörten zu einem schnarchenden Mann mittleren Alters, der sich auf dem Boden ausgestreckt und seinen kahlen Kopf auf eine zusammengefaltete Jacke gebettet hatte. Shans Vermutung bestätigte sich. Es gab zwar Regierungserlässe gegen die traditionellen Mittagsschläfchen, aber so weit von Peking entfernt kümmerte man sich wenig darum. Zu dieser Zeit des Tages kam die Arbeitsleistung teilweise völlig zum Erliegen.
Bedächtig und geschäftsmäßig stieg Shan die Stufen empor und erforschte zunächst den leeren Korridor. Zwei Toiletten. Ein Abstellraum. Zwei kleine Tagungszimmer, beide leer. Eine Tür zu einer Hintertreppe.
Dann trat er durch die Tür unter dem Mauerbogen und gelangte in einen großen quadratischen Raum. Zu beiden Seiten eines Mittelgangs, der zu einer verzierten Holztür führte, standen je zwei Schreibtische, hinter denen sich jeweils eine kleinere Tür befand. Es war nur eine Person zu sehen, eine schlanke junge Frau an einem der beiden hinteren Tische, die sich soeben in einem Handspiegel betrachtete und ihren Lippenstift nachzog. Shan entdeckte schnell, wonach er suchte, ein kleines Schild neben der ersten Tür links. Akten.
Zwischen den ersten beiden Tischen blieb er breitbeinig stehen, stemmte die Arme in die Seiten und wartete darauf, daß die Frau sich umdrehen würde. Sie entdeckte ihn zunächst im Spiegel und fuhr errötend herum. Dann lief sie zu ihm und neigte zum Gruß ehrerbietig den Kopf. Sie war Han-Chinesin und hatte ihr Haar zu einem langen kunstvollen Zopf geflochten. Ihre rote Bluse schien aus Seide zu sein, und um den Hals trug sie eine Goldkette. Drei ihrer Finger waren mit goldenen Ringen geschmückt. Für eine Büroangestellte der Regierung besaß sie einen ziemlich teuren Geschmack.
»Angeblich sollte hier jemand zu meiner Unterstützung bereitstehen«, sagte Shan und bemühte sich, den typisch blasierten und ungeduldigen Tonfall eines Pekinger Bürokraten nachzuahmen. »Sind Sie das?« Gendun hatte ihm erzählt, daß niemand sich je vollständig von seinen früheren Inkarnationen freimachen konnte, so daß ein Rest davon stets unsichtbar im Hintergrund verblieb. Es beunruhigte Shan, wie mühelos er in seine Rolle schlüpfte und wie nah ihm sein einstiges Dasein auf einmal zu sein schien.
Die Frau schaute zu einer der seitlichen Türen, hinter der ihre Kollegen vermutlich gerade ein Nickerchen hielten. »Die Anklägerin ist nicht da«, sagte sie unterwürfig.
»Und das heißt? Daß ein Inspekteur aus Peking einfach abzuwarten hat, wie es ihr beliebt?«
Als der Name der Hauptstadt fiel, riß die Frau die Augen auf. »Nein, nein! Natürlich nicht, Genosse. Es tut mir leid. Ich bin nur die Sekretärin der Anklägerin. Bestimmt würde sie wollen, daß jemand Ihnen, aber ich darf das Büro nicht unbeaufsichtigt zurücklassen.«
Gereizt pochte Shan auf den Umschlag, den er bei sich trug. »Ich habe keine Zeit, hier lange herumzusitzen. Bringen Sie mir Tee in den Aktenraum.«
Die Frau zuckte zusammen, neigte den Kopf und eilte zu einer Bank in einer der hinteren Ecken, auf der zwei große Thermoskannen standen.
Shan beschloß, daß er nicht mehr als eine Viertelstunde riskieren konnte. Die ersten paar Minuten benötigte er, um das Ablagesystem der Karteischränke zu durchschauen, die drei Wände des Zimmers einnahmen. Einer davon war mit »Berichte an die Zentrale« beschriftet und enthielt in chronologischer Anordnung anscheinend monatliche Bulletins für Urumchi und Peking, die mehrere Jahre zurückreichten. Die meisten der restlichen Schränke waren zwei anderen Kategorien zugeordnet: »Bürger-Gutachten« und »Prozeßakten«.
Keine Akte über Khitai. Keine über Bajys, Alta oder Suwan. Keine Akte über Kaju Drogme. Über Lu existierte eine etwa einen Zentimeter dicke Mappe bei den Bürger-Gutachten; sie umfaßte genau die Art von Hintergrundinformationen, die man über jeden politischen Amtsträger einholen würde, auch wenn es nur um ein so unbedeutendes Gremium wie
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