Das Auge von Tibet
nicht. Sie können mich weitermachen lassen.«
Xu hörte auf zu schreiben. »Unter Umständen habe ich mich in Ihnen getäuscht. Die Brigade leitet tief in der Wüste ein lao gai Lager. Vielleicht sollte ich Sie dorthin.« Sie wurde durch den Schrei einer Frau unterbrochen. Vor der Tür ihres Büros kam Unruhe auf, und man hörte mehrere Leute weglaufen. Es folgte ein zweiter schriller Schrei. Xu stand auf, eilte zur Tür und öffnete sie. Das vordere Büro war menschenleer. Als ein weiterer Schrei ertönte, lief sie zum Gang und die Treppe hinunter, wo sich die Ursache des Lärms zu befinden schien. Shan folgte ihr, blieb auf dem Korridor kurz stehen und überlegte, um dann zum Ende des Gangs zu rennen, wo sich die Hintertreppe befand.
Weniger als eine Minute später lief er durch eine schmale Gasse und erreichte etwa dreißig Meter hinter dem Ministerialgebäude die Straße. Der Verkehr dort war zum Erliegen gekommen, und die meisten Fahrer verließen ihre Wagen. An der Vorderseite des Gebäudes strömte eine Menschenmenge zusammen. Shan tastete sich voran und stieg auf das Trittbrett eines Lastwagens, um über die Köpfe der Leute blicken zu können.
»Ein Mord!« rief jemand.
Shan sah, wie die Anklägerin aus der Tür des Gebäudes trat, gefolgt von Fräulein Loshi und dem schlanken Mann aus dem vorderen Büro. Auf der Treppe vor Xu standen ein Mann und eine Frau, die wie Hirten gekleidet waren. Der Mann hielt ein Bündel auf dem Arm, eine blutige Decke, die man um einen kleinen Jungen gewickelt hatte. Der Junge war tot.
Kapitel 10
Jemand packte ihn am Arm und zog. Er gab nicht nach, sondern blieb stehen und starrte das tote Kind an. Die Frau neben dem Mann, der den Jungen hielt, schrie etwas in Richtung der Anklägerin. Dann drehte sie sich um und rief einige Worte in die schnell anwachsende Menge. Shan sah, daß manche der Leute die Flucht ergriffen, sich durch die Scharen der anderen drängten und versuchten, von dem Platz zu verschwinden. Die Han-Chinesen machten sich aus dem Staub.
»Niya!« rief jemand, und die Menge begann, den Namen laut im Chor zu wiederholen. »Niya! Niya! Niya!« Es war der Name von den Plakaten, der Name der rothaarigen Frau, die Shan auf den Postern gesehen hatte.
Plötzlich fielen ihm die Kriecher wieder ein. Es gab hier Kriecher mit Schnellfeuergewehren. Er wandte den Kopf und entdeckte die beiden grauen Uniformen auf einem Balkon an der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Einer der Männer schien in ein Handfunkgerät zu sprechen, während der andere seine Waffe bereithielt.
Auf den Stufen stand nach wie vor der Hirte mit dem Jungen und hielt das Kind schweigend empor, als würde er der Anklägerin die Leiche präsentieren. Er weinte. Die Augen des Jungen waren zusammengekniffen, als würde er versuchen, etwas in größerer Entfernung zu erkennen. Sein Hemd war zerrissen und blutbefleckt. Mitten in seiner Stirn gähnte ein Loch.
Dann griff jemand mit beiden Händen nach Shans Arm und ließ nicht mehr locker. Es war Jakli. Shan warf einen letzten Blick auf das tote Kind, ließ sich vom Trittbrett zerren und wegführen.
Sie beeilten sich, achteten aber darauf, keine Aufmerksamkeit zu erregen, und kamen auf diese Weise an vier Häuserblocks in verschiedenen Stadien der Baufälligkeit vorbei. Die Lehmgebäude beherbergten Läden, Werkstätten, Restaurants sowie triste Büros mit grauen Metalljalousien und lieferten damit einen Querschnitt durch das Leben in Yutian. Shan erkundigte sich nach dem Jungen, aber Jakli sagte nichts. Er fragte nach Niya, und dann erst sah er, wie aufgewühlt Jakli war. Ihre Augen schimmerten feucht, und sie schien sich mit aller Macht zu bemühen, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Schließlich erreichten sie ein Grundstück, auf dem hinter einem hüfthohen Drahtzaun insgesamt vier identische eingeschossige Lehmgebäude standen. Ein betonierter Weg, der so löchrig war, daß Jakli lieber parallel dazu auf dem blanken Erdboden ging, führte zu dem Haus im Zentrum des Geländes, das auf drei Seiten von den anderen Gebäuden flankiert wurde. Am Eingang blieb Shan stehen und betrachtete das Holzschild über der Tür. Darauf hatte einst ein Slogan gestanden, dessen vordere Hälfte inzwischen fehlte, so daß nur noch die Worte Stärkt Kinder übriggeblieben waren.
Erst als Jakli bereits sechs Meter in dem dunklen Flur zurückgelegt hatte, bemerkte sie, daß Shan ihr nicht gefolgt war. Sie drehte sich um, stemmte die Arme in die Seiten und
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