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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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wartete.
    »Hat der Junge zur zheli gehört?« rief Shan.
    Sie schaute sich mit besorgtem Blick auf dem Flur um und kam dann näher. »Ja, er war eines der Waisenkinder«, entgegnete sie angespannt und traurig. »Sein Name war Kublai. Er hat bei einem Clan rund dreißig Kilometer tief im Gebirge gelebt und ist nicht von einer der Schafweiden heimgekommen. Man hat seinen Körper am Fuß einer Klippe gefunden, mit einem toten Lamm auf dem Arm. Zuerst dachte man, er sei abgestürzt, vermutlich, weil er das Lamm retten wollte. Aber als die Leiche geborgen war, hat man die Schußwunde entdeckt. Auch das Lamm war durch einen Schuß getötet worden.« Jakli klang auf einmal zutiefst verzweifelt.
    »Wer ist Niya?« fragte Shan erneut. »Was hat sie mit dem Jungen zu tun?«
    »Meine Cousins haben vier der Familien der zheli erreicht und sie gewarnt«, sagte Jakli und sah zu Boden. »Malik hat einen zweiten Jungen zum Roten Stein gebracht. Der Kleine hatte zwei Mastiffs dabei, als ob die Hunde den Mörder aufhalten könnten. Mittlerweile sind einige Maos in Akzus Lager und bewachen die Jungen. Andere Maos sind in den Bergen unterwegs und helfen bei der Suche. Die Kinder sind so unglaublich schwer zu finden.«
    »Stehen die Jungen in irgendeiner Verbindung zu dieser Niya?«
    Jakli schien ihn abermals nicht zu hören. Sie drehte sich um und ging, wenngleich etwas langsamer, bis zu einer Tür kurz vor dem Ende des Gangs. Daneben saß jemand auf dem Boden. Der Mao mit den Goldzähnen, der die Schuhe gebracht hatte. Jakli bückte sich, um mit ihm zu sprechen, und Shan stieß die Tür auf.
    Drinnen saß Lokesh an einem schlichten Holztisch und nickte Shan grüßend zu. Es war ein kleiner Raum, dessen Fenster nach Süden wies und den Blick auf den Schulhof und die schneebedeckten Gipfel des Kunlun freigab. An den Wänden hingen mindestens zwei Dutzend Fotos, unter deren Motiven zunächst die zahlreichen Pferde auffielen. Aber es gab auch das Bild einer großen Buddhastatue, Fotos von Moscheen und sogar die Reproduktion eines alten Gemäldes, das Laotse, den großen Weisen des Tao, rittlings auf einem Ochsen zeigte. Oben an einem hohen Bücherregal hatte man einige Gebetsfahnen befestigt, die nun an den Seiten des Gestells herabhingen.
    Lokesh hielt eine Glocke in den Händen, ein altes, aus Bronze gegossenes Stück, dessen Griff einem Zepter glich und Shan vertraut vorkam. Es war eine dorje-Glocke, wie sie bei tibetischen Ritualen benutzt wurde.
    »Sie hat ihre Glocke vergessen«, sagte Lokesh grimmig und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Durch das Läuten einer dorje-Glocke ließ sich angeblich das Böse vertreiben. Neben der Glocke lag ein sieben oder acht Zentimeter durchmessendes Zwirnknäuel, das aus roten, grünen und gelben Fäden bestand. Shan wußte, daß es sich dabei nicht um gewöhnliches Garn, sondern um ein heiliges Kennzeichen handelte, das manche Buddhisten um rituelle Gegenstände wickelten, um dadurch Weisheit zu erbitten. Eine von Lokeshs Händen ließ von der Glocke ab und strich über das Knäuel. Am anderen Ende des Tisches lagen ein großes Buch, ein Koran, und eine schwarze dopa, die traditionelle Kappe der Moslems.
    »Wonach suchst du, mein Freund?« fragte Shan den alten Tibeter. Die Worte kamen ihm beinahe als Seufzen über die Lippen, so sehr machte der Anblick des dritten Jungen ihm noch zu schaffen. Er wußte, daß Lokesh nicht ins sichere Lhadrung zurückgekehrt und statt dessen aus Senge Drak hergekommen war, weil er etwas suchte, das er hier in der Schule zu finden gehofft hatte.
    »Es läßt sich nur schwer in Worte fassen«, sagte Lokesh heiser und schüttelte den Kopf, als riete eine innere Stimme ihm, nicht darüber zu sprechen. Er umschloß die Glocke mit beiden Händen. »In seiner eigentlichen Form ist es ein Jadekorb. Aber man sagt, es könne notfalls seine Gestalt verändern, um sich zu schützen.«
    »Wovor?« fragte Shan.
    »Als es zum letztenmal jemand zu Gesicht bekommen hat«, sagte Lokesh mühsam, als bereiteten die Worte ihm Schmerzen, »sah es äußerlich wie ein silbernes gau aus. Öffne es, und du wirst einen fein gearbeiteten Korb aus Jade entdecken, in dem wiederum Platz für ein Gebet ist.«
    Das Hemd des letzten Jungen, Kublais Hemd, war zerrissen worden, erinnerte Shan sich, als er die Bilder der Ereignisse vor dem Ministerialgebäude noch einmal Revue passieren ließ. Genau wie die Hemden von Alta und Suwan.
    »Bist du aus diesem Grund hergekommen?« fragte Shan.

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