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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Wegen dieses Jadekorbs? Ist es das, was du zurückholen mußt?« Ist Lau deswegen gestorben? hätte er beinahe gefragt. Für ein Artefakt? Er wußte, daß es bestimmte Symbole gab, machtvolle und hochverehrte Gegenstände, für deren Schutz fromme Buddhisten mit Freuden das eigene Leben hergeben würden. Ein solcher Tod galt sogar als großes Verdienst für die nächste Inkarnation.
    »Es ist riskant, darüber zu sprechen«, sagte Lokesh, der nach wie vor den Kopf schüttelte. »Falls du nicht weißt, wie du dich ihm nähern sollst, wird es sich immer weiter entfernen, je dichter du ihm kommst.« Er blickte zu Shan auf, und es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr er mit sich rang. »Keinesfalls.« Seine Stimme erstarb, und er starrte trübselig und bestürzt die Glocke an.
    »Hatte Lau es in ihrem Besitz? Bist du deswegen hier?« fragte Shan.
    Aber Lokesh konzentrierte sich eindringlich auf die Glocke in seinen Händen. Er schien Shan nicht mehr zu hören.
    Shan sah sich in dem Arbeitszimmer um, stellte sich dann in die Tür und ließ den Blick ein weiteres Mal durch den Raum schweifen. Xu war hiergewesen. Die Öffentliche Sicherheit vermutlich auch. Und Bezirksverwalter Ko natürlich ebenfalls. Xu hatte vermeintlich Laus persönliche Habe mitgenommen. Aber Lokesh glaubte, trotzdem noch zwei weitere Gegenstände entdeckt zu haben, nämlich das Zwirnknäuel und die Glocke. Die Sachen hatten offen dagelegen, mitten zwischen Laus Materialien zum Kulturunterricht. Hinter sich auf dem Gang hörte Shan den Mao mit Jakli sprechen. Der Mann deutete auf die gegenüberliegende Bürotür. Shan trat näher, um die Sache genauer in Augenschein zu nehmen. An der Glastür klebte ein handgeschriebenes Schild, auf dem jemand in fünf Zentimeter großen Buchstaben einen der berühmtesten Slogans des Großen Steuermanns festgehalten hatte. Religion ist Opium für das Volk. Auf der Tür stand ein Name: Komiteevorsitzender Hu. Shan erinnerte sich an den dicken verängstigten Han-Lehrer, den er im Lager Volksruhm kennengelernt hatte.
    Er ging zurück in Laus Büro. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Eine ausgedruckte Namenliste.
    »Die zheli «, erklärte Jakli beim Blick über seine Schulter. »Eine Computerliste aller Waisen, mit denen Lau gearbeitet hat, und der Unterrichtsplan der zheli .« Sie wies auf drei Namen. Suwan, Alta und Kublai.
    »Hat Lau oft am Computer gearbeitet?« fragte Shan.
    Jakli überlegte und musterte die Liste genauer. »Nein. Sie hatte nicht viel für Computer übrig.«
    »Oder hat ihnen zumindest nicht vertraut«, sagte Shan.
    Jakli nickte, ohne den Blick von der Liste abzuwenden. »Jemand anders hat das hier angefertigt.«
    »Das macht es einfacher«, sagte Shan leise und bemerkte Jaklis fragende Miene. »Für den Mörder.« Der Mörder hatte die Liste, die sich womöglich aus jedem beliebigen Computer der Brigade ausdrucken ließ, und brauchte jetzt nur noch die Aufenthaltsorte der Kinder herauszufinden. Aus diesem Grund hatte er Lau gefoltert. Shan überflog den Unterrichtsplan. In diesem Jahr waren für die zheli noch zwei Treffen angesetzt, das erste davon in einer Woche, das zweite fünf Tage später, beide an einem Ort namens Steinsee. Shan zeigte auf die Einträge.
    »Das ist ein Platz am Rand der Wüste«, erklärte Jakli. »Für Lau war es eine Art Tradition, das Schuljahr mit zwei Treffen dort ausklingen zu lassen. Um die Wüste besser verstehen zu lernen, sagte sie. Im Sommer ist es dort zu heiß.«
    »Die Jungen«, sagte Shan. »Welche der Kinder sind Jungen?
    Ich war mir zunächst nicht sicher, aber nun scheint es klar zu sein. Der Mörder hat es nur auf Jungen abgesehen.«
    Jakli zeigte auf neun weitere Namen. Dann verschränkte sie die Hände vor der Brust und starrte den Zettel an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Das war kein Schülerverzeichnis, sondern eine Todesliste.
    An der Wand hingen herausgerissene Seiten aus Schulheften, auf denen kurze Briefchen geschrieben standen. Danke, Tante, weil du mir gezeigt hast, daß die Wüste noch lebt, lautete eines davon. Mein Vogelküken hat heute ein Lied gesungen, stand in einem anderen. Zwei schienen Gedichte zu sein. Während mein Pferd trank, habe ich einen alten Bauern gesehen. Sein Schlaf war so tief, daß eine Maus an seinem Backenbart knabberte, las Shan. Das andere Gedicht wirkte erwachsener, die Schrift kunstvoll und schön. In den Bergen warten alte Männer, deren Weisheit dem Schnee gleicht.
    Shan sah aus dem Fenster. Vor den Wänden des

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