Das Auge von Tibet
zwei Tage. Es tut mir so leid«, sagte sie mit teilnahmsvollem Blick.
Er wunderte sich kurz über ihre Entschuldigung, bis ihm einfiel, daß er nun einen Tag hinter der Zeit lag. Stumm starrte er sie mit offenem Mund an. Er würde nicht nach Nepal und in ein neues Leben aufbrechen, und auch den alten Professor würde er nun doch nicht kennenlernen. »Und dieser Ort?« fragte er schließlich.
»Sandberg. Marco war bereits hier. Osman hat ihn über Funk verständigt und ihn gebeten, wegen des Sturms nach uns Ausschau zu halten.«
»Funk?« krächzte Shan. Trotz des vielen Wassers fühlte seine Kehle sich noch immer wie ausgedörrt an.
Aber niemand schien ihn zu hören. Die anderen schauten zum Eingang des Raums, wo Marco mit einem schlanken, rotblonden Mann stand. Jacob Deacon.
»Ist der große Ermittler bereit für ein Gespräch?« rief der eluosi aus zehn Metern Entfernung.
»Er ist zu erschöpft«, protestierte Jakli.
»Nein, es geht schon«, sagte Shan und reichte Lokesh hilfesuchend die Hand. Doch als er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig, und er sank auf die Knie.
Marco trat an Shans Lager, blieb vor ihm stehen und streichelte Sophies Hals.
»Noch ein paar Stunden Ruhe«, sagte Jakli. »Nur noch diesen Nachmittag.«
Marco nickte zögernd. »Wenn Sophie und Jakli sagen, ich soll warten, dann warte ich. Aber wirklich nur noch ein paar Stunden.« Er ging wieder hinaus.
»Nachmittag?« fragte Shan. »Aber es ist doch Nacht.«
»Wir sind hier in einer Höhle«, erklärte Jakli. »In einer Wasserstation. Vor langer Zeit war dies sogar ein Kloster.«
»Eine Wasserstation?«
»Die Aquädukte unter dem Sand. Die karez - in ihnen floß das Wasser aus den Bergen, als es dort noch große Eisfelder gab. In den Lehrbüchern aus Peking steht, Ingenieure aus Nanjing und Xian hätten sie gebaut, aber die alten Überlieferungen und die Mauern selbst besagen etwas anderes. Zur Zeit Ihrer TangDynastie sind Männer aus Persien gekommen, um sie zu bauen, und haben im Austausch wertvolle Edelsteine und Früchte unseres Landes erhalten. Auf den Wänden sind Gemälde von ihnen.«
Neben Shans Lager lag ein dickes, abgenutztes Buch. »Jemand hat mir etwas vorgelesen«, sagte er und nahm den Band. Die Reisen des Marco Polo, in englischer Sprache.
»Das war ich«, sagte Deacon, »aber die Idee stammt von Warp. Sie sagt, es hilft dabei, ein verletztes Hirn wieder zum Bewußtsein zu erwecken.«
»Warp?«
Jakli legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Uns bleibt noch genug Zeit für Erklärungen.« Dann reichte sie ihm wieder die Schöpfkelle.
Shan trank. Sein Durst schien unstillbar zu sein. »Das Wasser aus den Bergen fließt immer noch?«
»Nur noch ein Rinnsal, aber genug, um Sandberg am Leben zu erhalten.«
»Aber das ist doch mindestens tausend Jahre her.«
Jakli nickte und schob ihn sanft zurück auf sein Ruhelager.
»Schlafen Sie jetzt wieder. Wir bleiben in Ihrer Nähe.«
Doch als Shan aufwachte, war die Kammer leer. Vorsichtig, um nicht wieder durch eine plötzliche Bewegung einen Schwindelanfall zu erleiden, nahm er die Tonlampe neben seinem Lager und sah sich ein wenig um.
Der Raum maß ungefähr zwölf mal zwölf Meter. Zwei der Wände waren verputzt und mit Gemälden verziert. Sie zeigten die lebensgroßen Abbilder ernster Männer mit blauen Augen, langem rötlichem Haar und rechtwinklig gestutzten Bärten Ihre Gesichter erinnerten ihn irgendwie an Niya, die Frau auf dem Plakat. Sie hielten Gaben in den Händen und streckten sie anderen Gestalten entgegen, hinter denen eine Vielzahl winziger, nicht maßstabsgetreu gemalter Pferde zu sehen war. Entlang des Tunnels, der aus dem Raum führte, entdeckte Shan ein halbes Dutzend Meditationszellen. Er warf in eine der kleinen Kammern einen Blick und wich sofort wieder zurück. Unter Decken aus grobem Sackleinen lagen dort zwei Schlafende.
Der Tunnel teilte sich. Rechts sah Shan Licht und hörte mehrere Stimmen. Er ging nach links und gelangte schon bald in einen weiteren großen Raum. Dort stand Sophie neben zwei anderen Kamelen. Auf dem Sandboden hinter ihr war ein heller Lichtfleck zu sehen, der aus einem Gang am Ende der Kammer hereinschien. Sophie begrüßte ihn mit einem leisen Schnauben, und er kraulte ihr kurz den Hals. Dann folgte er dem gewundenen Gang sechs oder sieben Meter weit und trat in den gleißenden Sonnenschein hinaus.
Er schirmte seine Augen ab und ging einige Schritte. Der wolkenlose Himmel leuchtete kobaltblau. Shan fand schnell
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