Das Auge von Tibet
wie dasjenige, das Jacob Deacon in Karatschuk benutzt hatte, und eine hochentwickelte Kamera. Überall lagen große durchsichtige Kunststoffumschläge mit Stoffproben darin, vor allem rund um einen Computer, an dem Abigail Deacon saß. Über eines der Mikroskope stand ein Mann mit schütterem Haar und Dreitagebart gebeugt und arbeitete mit zwei Metallsonden an einem Stück Stoff. Mehrere Glühbirnen hingen an Kabeln von der Decke. Shan erkannte, daß die Kabel zu einer Batteriebank verliefen, die zwar größer, aber ansonsten genauso konstruiert war wie die Solarzellenanlage in Karatschuk.
Der Kopf des älteren Mannes ruckte hoch. Er stieß einen leisen Ruf aus, und Abigail Deacon blickte sich um. Sie wirkte nicht wütend, sondern lediglich verstimmt über die Störung. Dann betätigte sie schnell noch einige Tasten an dem Computer, entnahm dem Gerät eine Diskette und verstaute diese in einer Plastikhülle. Shan sah noch ein Dutzend weitere Hüllen auf dem Tisch, allesamt mit Disketten darin. Abigail Deacon sagte zu dem älteren Mann einige Worte in der Landessprache und wandte sich dann an Shan.
»Mein Mann hat mir schon angekündigt, daß Sie vermutlich Fragen stellen würden. Jede Menge Fragen.« Die Amerikanerin rieb sich kurz die Augen, ging zu einer großen Thermoskanne und goß drei Becher Tee ein, von denen sie zwei auf den Tisch neben das zweite Mikroskop stellte. »Tut mir leid«, sagte sie. »Stühle sind hier leider Mangelware. Wir bringen nur wenig den weiten Weg her, das nicht unbedingt notwendig ist. Nehmen sie meinen.« Sie deutete auf den Hocker vor dem Computer.
Shan schüttelte den Kopf. »Sie beherrschen sowohl Mandarin als auch die Sprache der Clans«, stellte er mit fragendem Unterton fe st.
Die Amerikanerin nickte. »Meine Großmutter war Kasachin. Sie hat einen amerikanischen Archäologen geheiratet, der hier Anfang des letzten Jahrhunderts die Seidenstraße erforschen wollte. Unsere Familie hat die verschiedenen Sprachen stets gepflegt.«
Shans Blick fiel auf eine der Proben, einen Streifen aus gezackten roten, gelben, blauen und braunen Linien, die wie kraftvoll leuchtende Blitze aussahen. Der Stoff war ausgefranst und wies mehrere kleine Löcher auf, schien jedoch ziemlich dick zu sein. »Sie suchen nach Stoff, Mrs. Deacon«, sagte er verunsichert. »Und dann legen Sie ein Verzeichnis der verschiedenen Arten an.«
»Warp«, entgegnete die Frau und lächelte über Shans Verwirrung. »Mein Mann ist Deacon. Ich bin weder Mrs. Deacon noch Dr. Deacon. Und auch nicht Abigail. Einfach nur Warp. Es ist ein Spitzname aus dem College.«
»Warp«, sagte Shan langsam, und die Amerikanerin lächelte erneut.
»Bevor wir unser Augenmerk auf die Takla Makan gerichtet haben, gab es eigentlich nur einen einzigen Ort auf dieser Welt, an dem sich nennenswerte antike Textilien finden ließen, nämlich Ägypten«, erklärte sie. »Für Archäologen stellt dies seit jeher ein Problem dar, denn es bedeutet eine große Lücke auf dem Weg zum Verständnis alter Kulturen. Im täglichen Leben spielt Kleidung eine ungemein wichtige Rolle, und schon immer hat es sich dabei um eine der bedeutendsten Industrien gehandelt. Früher hat die Produktion von Textilien zumeist mehr Arbeitskräfte gebunden als die Produktion von Nahrungsmitteln, und stets haben sich darin sowohl die Religion als auch der Grad der Kultiviertheit gespiegelt. In Ägypten können wir anhand der Kleidung den gesellschaftlichen Status einer Person und ihren Beruf bestimmen, manchmal sogar ihre Einstellung zur Körperhygiene.«
»Aber die Stoffe in Ägypten dürften zwei- oder dreitausend Jahre alt sein«, sagte Shan und schaute wieder zu der Probe. »Diese hier sehen deutlich jünger aus.« Während er den Blick durch das Labor schweifen ließ, fiel ihm das oberste der Bücherregale auf. Man hatte dort Platz für ein halbes Dutzend Grillenkäfige geschaffen. Shan erkannte sie sofort wieder - es waren Deacons wertvolle Schätze aus Karatschuk. Auf einem anderen Regal lagen mehrere Stapel der keilförmigen Holztafeln.
»Wir datieren sie nach der Radiokarbonmethode und benutzen dazu hölzerne Artefakte, die bei den Stoffen gefunden wurden. Haarnadeln, Gebrauchsgegenstände. Holzschmuck. Bisweilen Briefe aus Holz.« Sie nickte in Richtung der Tafeln und wies dann auf die Probe in dem Umschlag neben Shan. »Die dort stammt aus dem Zeitraum zwischen tausend und zwölfhundert.«
»Aus der Sung-Dynastie«, sagte Shan staunend.
Die Amerikanerin
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